Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 27:
Rektoratswechsel am Reformationsfest
Eine Habilitation hatte ich schon im Frühjahr 1872 erlebt, nämlich die von Johannes DelitzschSohn des Franz Delitzsch, ebenfalls Theologe, sechs Jahre älter als der Autor. [150]. Zuerst war ich Zuhörer bei seiner Antrittsvorlesung, welche die Entwicklung des Mariendogmas behandelte. Dann war ich Zeuge seiner Disputation, die in der PleißenburgDie Pleißenburg war ein historisches Bauwerk am damaligen Rand der sächsischen Stadt Leipzig. Das im 13. Jahrhundert errichtete Gebäude wurde 1549 als Festung neu aufgeführt und 1897 abgebrochen.Siehe Wikipedia.org [151] stattfand. Sämtliche ordentlichen Professoren mit seidenen ärmellosen Talaren angetan, saßen auf einer Bank und brachten nach der Reihe ihre Einwendungen gegen seine Dissertation vor, während er, auf einem Katheder stehend, sich verteidigte. Es war ein ziemlich lebhaftes Redegefecht. Delitzsch, der Vater, damals Dekan, sprach wie gewöhnlich in etwas zögernder Weise, was wohl auch durch die persönliche Anteilnahme veranlasst war. Der gute alte Lechler, der als Prodekan folgte, war wie gewöhnlich etwas schwerfällig, und der junge Disputator war ihm ziemlich über. Dann aber nahm Kahnis Lechlers Einwendungen auf und verfocht sie in glänzender Weise. Immer höher hob er sich in seinem Sitz, und der junge Disputator wurde ihm gegenüber immer kleinlauter. Mit ähnlicher Wucht fing Luthardt an. Doch entsprach der Fortgang nicht völlig dem Anfang. Luthardt war kein besonderer Lateiner. Fricke, der dann folgte und der ein sehr elegantes Latein sprach, hielt mehr einen Monolog. Am schärfsten aber setzte Tischendorf, der auch ein glänzender Lateiner war, dem Disputator zu. Man fühlte es diesem ordentlich an, wie er aufatmete, als er zu Baur seinem Schwiegervater kam, und ihn qui dulcissimis mihi junctus es vinculis
bat, adversarius quam acerrimus *...und ihn der du mir mit süßesten Banden verbunden bist
bat, ein möglichst scharfer Gegner
ihm zu sein. [152] ihm zu sein. Baur entsprach dem aber nicht, sondern begnügte sich, ihm Glück zu wünschen. Dann kam noch der kleine Hofmann, der einige Nachträge machte. Zum Schluss wandte sich Delitzsch an die Korona und bat, auch noch in das Wortgefecht einzutreten, worauf aber nichts erfolgte.

Die größte akademische Feier des Jahres war allemal der Rektoratswechsel am Reformationsfest, den ich aber nur zweimal erlebte, weil er 1870 während des Krieges nicht stattfand, sondern das Rektorat in Zarnikes Händen blieb. Nach dem Gottesdienst in der Universitätskirche erfolgte der feierliche Aufzug des Senats in die Aula. Voran nach dem Vortritt der zwei Pedellen in scharlachroten Gewändern mit Zeptern in den Händen der
rector magnificusMagnifizenz (lat. rector magnificus) ist die Anredeform für einen Rektor einer Universität. Die Bezeichnung leitet sich aus dem Lateinischen magnificentia her und wurde über die lateinischen Anrede magnifice rector ins Deutsche überführt.Siehe Wikipedia.org [153], geführt von Regierungsbevollmächtigten, über dem seidenen Talar einen bis an die Hüften reichenden mit einem breiten Hermelinbesatz versehenen Purpurmantel und die goldene Rektoratskette tragend. Dann die Dekane der vier Fakultäten, der Theologe einen violetten, der Jurist und Mediziner je einem roten, aber in verschiedener Schattierung, der Philosoph einen blauen Mantel, auch mit Hermelin besetzt tragend. Dann die übrigen Professoren nach Fakultäten geordnet. War der Zug vorbei, so drängte alles in die Aula nach. Der Rektor bestieg die Rednerbühne, vor der die Pedelle ihre Aufstellung nahmen, und erstattete den Jahresbericht. Darauf forderte er den neu erwählten Rektor - in einem Jahr war es der Mediziner WunderlichCarl Reinhold August Wunderlich (1815-1877) war ein Internist und Medizinhistoriker. Er war Professor in Tübingen und Leipzig und gilt als Mitbegründer der physiologischen Medizin und der Konstitutionstherapie.Siehe Wikipedia.org [154], im andern der Sanskritist BrockhausHermann Brockhaus (1806-1877) war ein deutscher Orientalist. Er war im Jahr 1872/73 Rektor.Siehe Wikipedia.org [155] - auf, an die Rednertribüne heranzutreten, nahm ihm den Eid ab und bekleidete ihn dann mit dem Purpur und der Kette, worauf derselbe, begrüßt von akademischem Getrampel, seine Antrittsrede hielt. Eine Gelegenheit hervorzutreten fand sich nur noch in meinem letzten Leipziger Semester. Eines Montags kam Bartels zu mir auf mein Zimmer und forderte mich zur Teilnahme an einer Aktion auf. Er war den Abend vorher zum offnen Abend bei Luthardt gewesen, mit ihm sein Freund Theodor HoppeTheodor Hoppe (1852-1932) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und zuletzt Generalsuperintendent der Generaldiözese Hildesheim. [156]. Es war ja die Zeit des KulturkampfesAls Kulturkampf wird der Konflikt zwischen dem Königreich Preußen (später dem Deutschen Kaiserreich) unter Reichskanzler Otto von Bismarck und der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. bezeichnet. Die Auseinandersetzungen eskalierten ab 1871, wurden aber bis 1878 beendet und 1887 diplomatisch beigelegt.Siehe Wikipedia.org [157], und eben hatte FalkAdalbert Falk (1827-1900) war preußischer Kultusminister.Siehe Wikipedia.org [158] im preußischen Abgeordnetenhause den Gesetzentwurf wegen des Kulturexamens der Theologen vorgelegt. Luthardt hatte die Sprache darauf gebracht und gesagt: Jetzt ist es an den Studenten, sich zu regen. Denn dieser Gesetzentwurf ist ein Schlag ins Angesicht der Theologen, eine Erklärung der Minderwertigkeit ihres Studiums und ihrer Bildung.
So gab er anheim, in einer an das Abgeordnetenhaus zu richtenden Eingabe um Ablehnung dieses Entwurfs zu bitten. Nun hatten Bartels und Hoppe die Sache in die Hand genommen. Da sie aber beide Hannoveraner waren und deshalb die Befürchtung nahe lag, die Sache möchte als eine welfische Sache angesehen und damit von vornherein verdächtigt werden, käme viel darauf an, dass auch die altpreußischen Studenten sich den Protest aneigneten. So luden wir denn die Theologen, die preußische Staatsangehörige waren, zu einer Versammlung ein. Hoppe leitete die Versammlung und legte den Entwurf einer Petition vor. Er fand im allgemeinen Zustimmung, und es wurde ein Redaktionsausschuss, bestehend aus Hoppe, Bartels, Pippow, einem Vorpommern, von Koblinsky, Berliner, und mir gebildet. Wir redigierten ihn zusammen auf Hoppes Zimmer und legten ihn zu Unterschriften aus. Dann wurde er an das Abgeordnetenhaus geschickt. Bartels als Erstunterzeichner erhielt auch eine von dem Präsidenten von Forckenbeck unterschriebene Empfangsbescheinigung. Eine gleiche Eingabe wurde hernach auch von uns an das HerrenhausDas Preußische Herrenhaus war die Erste Kammer des Preußischen Landtags, der Legislative Preußens.Siehe Wikipedia.org [159] geschickt, von dem sie aber gar nicht beantwortet wurde. Wir schickten gleichzeitig Aufforderungen zu ähnlichem Vorgehen auch an andere Universitäten. Einige schlossen sich uns an, andere lehnten Beteiligung ab, so die Hallenser, nachdem BeyschlagWillibald Beyschlag (1823-1900) war ein evangelisch-lutherischer Theologe in Halle und einflussreicher Kirchenpolitiker.Siehe Wikipedia.org [160] die Angelegenheit, der SchlottmannKonstantin Schlottmann (1819-1887) war ein evangelischer Theologe in Halle.Siehe Wikipedia.org [161] freundlich gegenüber, stand, hintertrieben hatte. Die Breslauer wollten in dem Gesetzentwurf sogar eine Begünstigung der Theologen erblicken. Erfolg hat unser Vorgehen, wie bekannt, nicht gehabt.
[151] Die Pleißenburg war ein historisches Bauwerk am damaligen Rand der sächsischen Stadt Leipzig. Das im 13. Jahrhundert errichtete Gebäude wurde 1549 als Festung neu aufgeführt und 1897 abgebrochen.
[152] ...und ihn
der du mir mit süßesten Banden verbunden bistbat,
ein möglichst scharfer Gegnerihm zu sein.
[153] Magnifizenz (lat. rector magnificus) ist die Anredeform für einen Rektor einer Universität. Die Bezeichnung leitet sich aus dem Lateinischen magnificentia her und wurde über die lateinischen Anrede magnifice rector ins Deutsche überführt.
[154] Carl Reinhold August Wunderlich (1815-1877) war ein Internist und Medizinhistoriker. Er war Professor in Tübingen und Leipzig und gilt als Mitbegründer der physiologischen Medizin und der Konstitutionstherapie.
[155] Hermann Brockhaus (1806-1877) war ein deutscher Orientalist. Er war im Jahr 1872/73 Rektor.
[156] Theodor Hoppe (1852-1932) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und zuletzt Generalsuperintendent der Generaldiözese Hildesheim.
[157] Als Kulturkampf wird der Konflikt zwischen dem Königreich Preußen (später dem Deutschen Kaiserreich) unter Reichskanzler Otto von Bismarck und der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. bezeichnet. Die Auseinandersetzungen eskalierten ab 1871, wurden aber bis 1878 beendet und 1887 diplomatisch beigelegt.
[158] Adalbert Falk (1827-1900) war preußischer Kultusminister.
[159] Das Preußische Herrenhaus war die Erste Kammer des Preußischen Landtags, der Legislative Preußens.
[160] Willibald Beyschlag (1823-1900) war ein evangelisch-lutherischer Theologe in Halle und einflussreicher Kirchenpolitiker.
[161] Konstantin Schlottmann (1819-1887) war ein evangelischer Theologe in Halle.