Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 7:
Geheimrat von Tischendorf
Die übrigen Dozenten traten hinter diesen drei Großen sehr zurück. Am meisten galt dies grade von dem berühmtesten unter allen, dem Entdecker des Codex SinaiticusDer Codex Sinaiticus ist ein Bibel-Manuskript aus dem 4. Jahrhundert. Der Codex enthält große Teile des Alten und ein vollständiges Neues Testament in altgriechischer Sprache. Er gehört zu den bedeutendsten bekannten Handschriften des griechischen Alten Testaments und des Neuen Testaments und ist die älteste vollständig erhaltene Abschrift des Neuen Testaments. - Mehr zum Thema im Bericht Osterfahrt zum Katharinenkloster
seines Urgroßenkels Michael Malsch unter https://ewnor.de/mm/880_mm.php Siehe Wikipedia.org [41], Geheimrat von TischendorfKonstantin von Tischendorf (1815-1874) war ein evangelischer Theologe. Er entdeckte 1844 den Codex Sinaiticus, die älteste vollständig erhaltene Handschrift des Neuen Testaments.Siehe Wikipedia.org [42]. Luthardt soll ihm einst ein Epitheton ornansSprachliches Attribut, Zusatz, Beiwort oder Nachname
(gr. epithetos: hinzugefügt, nachgestellt, zugeordnet, das Hinzugefügte, das später Eingeführte)Siehe Wikipedia.org [43] der Universität genannt haben. Das war er: eine Zierde der Universität, aber als Dozent kaum zu rechnen. Ich hörte bei ihm im ersten Semester SynopseZusammenschau
, Übersicht
. Eine Synopse ist eine zusammenfassende und vergleichende Übersicht und Gegenüberstellung gleichartiger Daten und Texte in zwei oder mehr Dokumenten. In der Bibelforschung ist sie bei der Evangelienforschung von Bedeutung.Siehe Wikipedia.org [44]. Von vornherein fiel mir die geringe Zahl der Zuhörer auf. Und was er gab, beschränkte sich darauf, dass er die einzelnen Abschnitte seiner Synopse, die wir uns angeschafft hatten, vornahm und zu jedem einige vorwiegend apologetische, meist gegen Ronan gerichtete Bemerkungen machte, oder auch, wenn der Abschnitt es an die Hand gab, Reiseerinnerungen und Anekdoten erzählte. Von einer eigentlichen Synopse war aber nicht die Rede.
Eines Tages schenkte er jedem seiner Zuhörer ein Exemplar seiner Schrift: Wann wurden unsere Evangelien verfasst?
Der Famulus verteilte sie vor Beginn des Kollegs. Als er eintrat, wurde er dann selbstverständlich mit kräftigem Getrampel begrüßt. Indem er sich beim Überschreiten der Schwelle dankend verneigte, kam er zu Falle, so dass die Bücher, die er im Arm hielt, vor ihm auf die Erde stoben. Als einer der zunächst Sitzenden war ich beim Einsammeln behilflich, sah mich aber hinterher bewogen, bei ihm Besuch zu machen, da er doch wissen musste, wem er seine Bücher schenkte. Einige Wochen später fand ich sonnabends bei meiner Rückkehr vom Mittagessen eine Karte vor: G.H.R. von Tischendorf bittet Herrn N. N., morgen bei ihm zu speisen.
Das war natürlich ein großes Ereignis. Ich ließ mir mein Zimmer immer erst gegen Abend heizen. Da der Gottesdienst in Leipzig. zu früher Stunde stattfand - in den beiden Hauptkirchen um achteinhalb Uhr, in den übrigen um neun Uhr - hatte ich nach demselben noch viel Zeit, die ich mit Lesen der Luthardtschen Kirchenzeitung verbrachte. Dass es ziemlich kalt im Zimmer war, störte mich wenig. Ich sah aber doch von Zeit zu Zeit nach der Uhr, ob es bald an der Zeit war, mich in große Toilette zu werfen. Als es meiner Meinung nach so weit war, tat ich's und machte mich auf den Weg. Unterwegs hörte ich die Turmuhren schlagen. Es kam mir schon so vor, als täten sie mehrere Schläge. Ich mochte aber mit meinen weißen Handschuhen nicht unter den Frack nach der Uhr greifen, um nicht einen weißen Fleck zurückzulassen, den ich nicht gut wieder abwischen könnte, ging also tapfer auf mein Ziel los. Im Hause schien es mir so unfertig auszusehen. Ich meldete mich bei Herrn Geheimrat. Eins seiner Töchterlein - wie ich nachträglich festgestellt habe, war es die jetzige Frau Pastor SchnellerTochter von Ludwig Schneller (1858-1953) war ein evangelischer Theologe. Er war Pastor und Missionar in Bethlehem und engagierte sich für das Syrische Waisenhaus, das sein Vater gegründet hatte.Siehe Wikipedia.org [45] in Cöln - führte mich in seine Studierstube. Nach einer Weile kam er an - im Schlafrock, sehr freundlich: Nun, lieber Herr Dittrich, es freut mich Sie zu sehen, ich habe Sie eingeladen. Sie sind aber zu früh gekommen.
Ich machte ein furchtbar dummes Gesicht. Er fuhr fort: Ich habe Sie doch um ein Uhr eingeladen? Jetzt ist es aber erst um zwölf.
Ich schnellte in die Höhe wie ein Flitzbogen und stammelte eine Entschuldigung. Er sagte begütigend: Nun, nu, besser, Sie kommen eine Stunde zu früh als eine Stunde zu spät.
Ich war draußen, ich wusste nicht wie und schämte mich wie ein Pudel. der geprügelt worden. Nach Hause zu gehen genierte ich mich vor meiner Wirtin. Ich bummelte also ziellos umher, bis es ein Uhr vorbei war. Nun wollte ich auch nicht zu spät kommen. Ich fand schon eine Anzahl Gäste vor. Er empfing mich mit den Worten: So, jetzt kommen Sie zu rechter Zeit.
Bei Tisch saß ich neben der Frau Geheimrat, einer sehr liebenswürdigen, einfachen Dame. Nach Tisch sagte Tischendorf zu uns: Wollen Sie mal ins Kaleidoskop sehen?
und führte uns an einen Glasschrank, in dem alle seine Orden in geschmackvoller Anordnung ausgestellt waren, in der Mitte der Stern des russischen StanislausordensDer Orden des Heiligen Stanislaus war ein ursprünglich polnischer Verdienstorden. Alexander I. erneuerte 1815 als König von Polen den Orden. Zar Nikolaus I. verleibte ihn 1831 den russischen Orden ein.Siehe Wikipedia.org [46] mit dem breiten scharlachroten Bande. Er machte uns auf die einzelnen Orden aufmerksam, auch auf eine Münze, die eigens für ihn entworfen war, und zeigte uns einen eigenhändigen, Brief des Papstes sowie andere wertvolle Andenken. Am nächsten Mittwoch sagte Frau Domherr Kahnis zu mir: Gestern müssen Ihnen die Ohren geklungen haben, ich traf mit Geheimrat von Tischendorf zusammen und sprach mit ihm von Ihnen.
Ich wusste natürlich sofort, wovon die Rede war, und machte ein ziemlich sauersüßes Gesicht.
Osterfahrt zum Katharinenklosterseines Urgroßenkels Michael Malsch unter https://ewnor.de/mm/880_mm.php
[42] Konstantin von Tischendorf (1815-1874) war ein evangelischer Theologe. Er entdeckte 1844 den Codex Sinaiticus, die älteste vollständig erhaltene Handschrift des Neuen Testaments.
[43] Sprachliches Attribut, Zusatz, Beiwort oder
Nachname(gr. epithetos: hinzugefügt, nachgestellt, zugeordnet� das Hinzugefügte� das später Eingeführte)
[44]
Zusammenschau,
Übersicht. Eine Synopse ist eine zusammenfassende und vergleichende Übersicht und Gegenüberstellung gleichartiger Daten und Texte in zwei oder mehr Dokumenten. In der Bibelforschung ist sie bei der Evangelienforschung von Bedeutung.
[45] Tochter von Ludwig Schneller (1858-1953) war ein evangelischer Theologe. Er war Pastor und Missionar in Bethlehem und engagierte sich für das Syrische Waisenhaus, das sein Vater gegründet hatte.
[46] Der Orden des Heiligen Stanislaus war ein ursprünglich polnischer Verdienstorden. Alexander I. erneuerte 1815 als König von Polen den Orden. Zar Nikolaus I. verleibte ihn 1831 den russischen Orden ein.