Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 28:
Lebewohl Leipzig - aber wohin?
So hatte ich mich nun in Leipzig fünf Semester studierenshalber aufgehalten, und der Gedanke, mich von da loszureißen, war mir immer schwerer geworden. Und doch musste er ins Auge gefasst werden. Aber wohin? Breslau, das mir in den ersten Semestern noch als Ziel vor Augen geschwebt hatte, war allmählich aus den Gedanken ausgeschaltet worden. Ich fühlte, dass ich doch kein rechter Schlesier mehr wäre. Greifswald lockte mich auch nicht. Ich war noch kein rechter Pommer geworden, und CremerHermann Cremer (1834-1903) war ein deutscher lutherischer Theologe. Er gilt als der wichtigste Kopf der sog. Greifswalder Schule.Siehe Wikipedia.org [162], der einen neuen Aufschwung der dortigen Fakultät herbeiführen sollte, war noch wenig bekannt. Mutter hätte gern gesehen, wenn ich mich noch für Berlin entschlossen hätte. Aber das wollte mir am wenigsten zu Sinn. Schon die Größe der Stadt schreckte mich zurück. Außerdem hätte ich mich mit den Einflüssen, unter die ich dort gekommen wäre, am wenigsten befreunden können. Es war die Union1817 verordnete König Friedrich Wilhelm III. die Vereinigung der reformierten und lutherischen Gemeinden zu einer unierten Kirche in Preußen. Sie existierte bis 1953 unter verschiedenen Namen.Siehe Wikipedia.org [163], mit der ich mich je länger je weniger abfinden konnte. Der Widerwille gegen dieselbe reichte bis in die Zeit des Geschichtsunterrichts zurück, den ich von meinem Vater erhalten hatte.
Dass ein Fürstenhaus, das seine frühere Kirche, gleichviel aus welchen Gründen, verlassen hatte, nun auch seine Untertanen von derselben abzuwenden suchte, und über die, welche diesem Unternehmen aus Treue gegen ihr Bekenntnis sich nicht fügten, Drangsal verhängte, war mir von jeher als ein nicht zu duldendes Unrecht erschienen. Nun stand in Leipzig Kahnis vor mir als ein Mann, der einst unter diesen Drangsalen zu leiden gehabt und ein Konfessor des Luthertums geworden war, und der doch so frei von aller Verbitterung, überhaupt von aller Enge und allem Fanatismus war und so unumwunden auch das Gute in andern Konfessionen und innerhalb der Union anerkannte, dass ich dadurch in meinem Entschlusse, nur der lutherischen Kirche zu dienen, immer mehr befestigt wurde. Vater hatte mir schon in seinem ersten Brief, den er mir seinerzeit nach Leipzig sandte, geschrieben: Du wirst meine Hoffnungen nicht täuschen und ein tüchtiger lutherischer Theologe werden
, und bestärkte mich durch die schwächliche Haltung, die der Berliner Oberkirchenrat im Kulturkampf beobachtete, gegen denselben eingenommen, noch mehr in meinem Vorhaben. So wäre ich am liebsten nach Erlangen oder Tübingen gegangen. Aber dem stand die damals noch für Preußen bestehende Nötigung, drei Semester auf einer preußischen Hochschule zu studieren, entgegen. Vater hatte an Kleist-RetzowHans Hugo von Kleist (1814-1892) war ein preußischer Oberpräsident und konservativer Politiker.Siehe Wikipedia.org [164] geschrieben und ihn gebeten, Aufhebung dieser Bestimmung im Landtag zu befürworten. Kleist-Retzow hatte es getan, war aber damit nicht durchgedrungen. Freizügigkeit für alle, nur nicht für evangelische Theologen
, schrieb er bitter zurück. Die liberale und kulturkämpferische Mehrheit im Landtag hatte orthodoxe Bestrebungen hinter diesem Antrag gewittert und ihn deshalb zu Falle gebracht. So schien sich für mich ein Ausweg zu öffnen, indem ich Göttingen ins Auge fasste. Die hannoverschen Freunde im theologischen Verein legten mir das nahe.
Noch mehr tat in dieser Hinsicht ein Mann, der gerade, als ich zu studieren anfing, nach Cöslin kam und meinen Eltern näher trat. Das war Friedrichs, bis dahin Oberkonsistorial-Assessor in Hannover, den man wegen seiner Beteiligung an der ersten allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz in Hannover von da an die Regierung in Cöslin versetzt hatte. Dieser treffliche Mann, der in Cöslin gleich ein reges Mitglied der Konferenz geworden war, die Vater mit Pastor Zahn und einigen andern kirchlich interessierten Männern hatte und an der ich in den Universitätsferien auch teilnehmen durfte, nahm von vornherein ein lebhaftes Interesse an mir und meinen Studien. Er hat zwar nichts getan, mich nach Hannover zu locken, hat aber, als sah, dass ich dorthin zu kommen strebte, mir redlich die Wege geebnet. Ein Umstand fiel für Göttingen allerdings noch ins Gewicht, den ich nicht ohne einige Beschämung erwähnen kann. Vater hätte es gern gesehen, wenn ich die akademische Laufbahn ergriffen hätte. Meiner Eitelkeit schmeichelte das ja auch. Aber wenn ich die Konsequenzen für Einrichtung meines Studiums daraus gezogen wissen wollte, schreckte er doch vor dem Risiko zurück, das damit verbunden war, besonders den Kosten, die ein längeres Studium verursacht hätte. Er spielte im Grunde doch nur mit dem Gedanken. Auch ich hätte mein Studium mit ganz anderem Ernst betreiben, hätte mich besonders nicht so zersplittern müssen, wenn ich dies Ziel hätte erreichen wollen. Nun machte Zahn meinen Vater auf das Institut der Repetenten in Göttingen aufmerksam, das er durch seinen Göttinger Bruder kannte. Da könne man mit SubsistenzmittelnPhilosophisch bedeutet Subsistenz das Bestehen durch sich selbst und für sich selbst
.Siehe Wikipedia.org [165] weiter studieren und sich auf eine etwaige Habilitation vorbereiten. So wurde denn beschlossen, ich solle die letzten Semester in Göttingen sein. Dort könne ich mir das erwähnte Institut aus nächster Nähe ansehen und in Ruhe mich überzeugen, ob das ein für mich gangbarer Weg wäre oder nicht.
[163] 1817 verordnete König Friedrich Wilhelm III. die Vereinigung der reformierten und lutherischen Gemeinden zu einer unierten Kirche in Preußen. Sie existierte bis 1953 unter verschiedenen Namen.
[164] Hans Hugo von Kleist (1814-1892) war ein preußischer Oberpräsident und konservativer Politiker.
[165] Philosophisch bedeutet Subsistenz das
Bestehen durch sich selbst und für sich selbst.