Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 13:
Leipzigs Prediger
Dass ich regelmäßig die Kirche besuchte, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Und da hörte ich selbstverständlich vor allem den ehrwürdigen AhlfeldJohann Friedrich Ahlfeld (1810-1884) war ein deutscher lutherischer Theologe und beliebter volkstümlicher Prediger und Autor. 1851 bis 1882 war er Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig. Siehe Wikipedia.org [94].

Ahlfelds ganze Erscheinung war in hohem Maße ebenso anziehend als ehrfurchtgebietend. Die hohe Gestalt, das volle, damals schon fast weiße Haupthaar, das schöne Antlitz voll Milde und Ewigkeitsernst, dem man das Gebetsleben anzumerken glaubte, die tiefe, warme, wenn er predigte, rasch, einem Gebirgsbach vergleichbar, einherströmende Stimme, alles wirkte harmonisch zusammen. Manche meinten freilich, sein Organ sei für die große Nikolaikirche wenig günstig, und die Hörer drängten sich, besonders die Studenten, in den Gängen und um die Kanzel, so dass die hinteren Sitze vergleichsweise leer waren. Ich, der ich stets zur nördlichen Tür, die der Kanzel gegenüber lag, in die Kirche kam, habe das nie empfunden. Und der Inhalt war stets, ob er mit der Stimme des guten Hirten lockte, oder mit dem Ernst des Gerichtes erschütterte, herzlich und herzandringend. Er hat gelegentlich bekannt, seine Predigt besonders von Herberger, der sich ja gern Herzberger nannte, und seine Postillen Herzpostillen nannte, gelernt zu haben. Und an Herberger erinnerte auch die von Beispielen aus dem Leben und Erzählungen belebte Weise. Auch mit Ludwig Richter könnte man ihn vergleichen. Derselbe Ton schlichter, altväterlicher Frömmigkeit, von der man besonders das deutsche Haus so gern durchweht denkt, wie er aus dessen Bildern hervorklingt, zeigt sich auch in den Predigten Ahlfelds. Andere Prediger haben ihren Text tiefer ausgeschöpft und gaben dem, der in die Schrift eindringen will, mehr. Aber unmittelbar ansprechender hat kaum einer zu predigen gewusst als Ahlfeld. In der damaligen Kriegszeit fand er besonders auch warme, begeisternde vaterländische Töne, ohne doch damit der evangelischen Wahrheit und dem Bußernst im Geringsten etwas zu vergeben. So ist mir besonders seine Predigt nach dem Fall von Paris über Offenbarung des Johannes 14,8 unvergesslich, wo er, nachdem er den verhängnisvollen und verderblichen Einfluss, der von der Stadt Paris von jeher auf Glauben und Sitte ausgegangen ist, berührt hatte, darauf zu sprechen kam, dass die Leipziger mit einem gewissen Wohlgefallen und Stolz ihr Leipzig ein klein Paris nennen hörten und sagte: Das ist ein Scherz, aber ein schlechter, ein furchtbarer Scherz
und daran seine Bußmahnungen knüpfte. Beim Friedensfest predigte er über 2. Chron. 20, 26 ff und hatte zum Thema: Das deutsche Volk im Lobetal
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Wie zu Ahlfeld in die Nikolaikirche, so strömte alles in die Paulinerkirche, wenn Kahnis oder Luthardt predigten, was im Jahre je zwei oder drei Mal geschah. Kahnis war auch auf der Kanzel wie auf dem Katheder der Historiker und der Lehrer. Auch Luthardt verleugnete den akademischen Dozenten nicht, wenn seine Predigten auch mehr den gewohnten Predigtcharakter in sich trugen. Öfter hörte ich auch Baur, der ja als Vertreter der praktischen Theologie offiziell erster Universitätsprediger war. Doch kann ich nicht sagen, dass seine Predigten, so wohl ausgearbeitet und stilisiert und so klar formuliert sie waren, mich besonders erwärmt hätten. Sie hatten ihr bestimmtes Schema, gewöhnlich drei Teile, in der ersten Hälfte jedes Teils die Auslegung des Textes, in der zweiten die Anwendung gebend. Und wo er zu jener Zeit das vaterländische Gebiet berührte, mussten die doch, sehr im Unterschied zu Ahlfeld, Bedenken erregen. So predigte er in der Feier, welche die Universität zum Gedächtnis ihrer Gefallenen 1871 am Johannistage - für die Leipziger der Tag, an dem sie auf die Kirchhöfe ziehen und die Gräber ihrer Verstorbenen schmücken - über das Wort des Herrn: Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, wer es aber verliert um meinetwillen, der wird es finden
, und identifizierte in mindestens sehr missverständlicher Weise Hingabe des Lebens für das Vaterland und Hingabe für den Herrn. Mit nicht zu verkennender Anspielung darauf betonte Luthardt in seinem nächsten Ethik-Kolleg, dass Vaterlandsliebe etwas natürliches, aber darum noch nicht notwendigerweise etwas sittliches wäre. Noch störender trat mir das entgegen in der Leichenrede für den jungen Delitzsch, der am 17. Januar 1872 seinen Leiden erlegen war, wo Baur als Haupttrostgrund für den tiefgebeugten Vater das hervorhob, dass sein Sohn am Vorabend des Jahrestages der Neugründung des deutschen Reiches gestorben sei, zu dessen Bausteinen er gehört. Ich sehe noch die Blicke, die Hardeland und Frau Domherr Kahnis, die etwas weiter ab am Grabe nebeneinander standen, sich dabei zuwarfen.
Am häufigsten ging ich, wenn Ahlfeld nicht predigte, zu Pfarrer Michaelis am Jakobi-Krankenhause, zu dem die frühere Gemeinde des Magisters Schneider am Georgenhause sich hielt, den ich auch noch einige Mal predigen hörte, der aber, da in schwere Krankheit, in der auch schwere geistliche Anfechtungen ihn heimsuchten, verfiel und etwa um die Zeit, wo ich Leipzig verließ, starb. Schneider sowohl wie Michaelis standen auf der äußersten kirchlichen Rechten und hielten schlichte, tief aus der Schrift geschöpfte Predigten. Bei Michaelis störte nur das etwas manierierte Auftreten und der salbungsvolle, bald pathetische, bald weinerliche Kanzelton.