Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 17:
Jentsch, Schubart und andere Vereinsmitglieder
So verblutete der Handel. Für den Verein hatte er aber wie gesagt eine ganz außerhalb seines Rahmens liegende Folge. Jentsch war natürlich in unsern Augen dadurch mächtig gehoben. Besonders gab ich meiner Begeisterung für ihn einen echt fuchsmäßigen Ausdruck. Da äußerte er eines Abends gegen mich: Du bist ein famoser Kerl. Du sollst mein LeibfuchsJentsch wurde also sein
Das war die Geburtsstunde des Leibburschen und Leibfuchs-Verhältnisses im Verein überhaupt und damit wohl eines strafferen korporativen Zusammenschlusses unter uns.Leibbursch
. Ein frisch in eine Verbindung aufgenommener Fuchs kann einen älteren Burschen, zu dem er besonders viel Vertrauen aufgebaut hat, auswählen, sein Leibbursch zu werden, wodurch der Fuchs gleichzeitig zum Leibfuchsen dieses Burschen wird.Siehe Wikipedia.org [106] werden.
Jedenfalls wurde dadurch eine dauernde Freundschaft zwischen Jentsch und mir begründet, die ungeachtet aller Verschiedenheit zwischen uns alle Wechselfälle überdauert hat. Wir haben uns später einmal gestanden, dass wir, als wir uns zuerst gesehen, unsympathisch von einander berührt gewesen wären. Es war am Geburtstag der Frau Domherr Kahnis, bei der wir uns zur Gratulation trafen. Ich trat in höchster Gala, Frack, Zylinder und weißen Handschuhen an, während Jentsch schon da saß. Er sagte, dass ich ihm halb Muttersöhnchen,- halb - wir würden heute sagen, damals war der Ausdruck noch nicht in den deutschen Sprachschatz aufgenommen - Fatzke erschienen sei. Ich hingegen mochte ihm wohl die Geringschätzung abfühlen, die er gegen mich hegte. Das machte mich misstrauisch. Dies Misstrauen steigerte sich noch, als ich ihn, den ich inzwischen gar nicht mehr gesehen, da er höheren Semestern als ich angehörte, im Verein wieder begegnete. Als wir auf der Kneipe saßen, flüsterte er dem präsidierenden Kneipwart, neben dem er saß, etwas zu und beide lachten miteinander. Ich merkte, dass das Lachen mir galt, und vermutete gleich, dass Jentsch mein damaliges Auftreten geschildert hatte. So war ich anfangs etwas bange, ob ich mich auch mit ihm würde stellen können. Als er mir dann aber bei meiner Aufnahme besonders herzlich die Hand schüttelte, bat ich ihm mein Misstrauen im Stillen ab, das ja dann auch vollständig schwand. Denn ich merkte bald, dass sich hinter seinem weltmännischen Auftreten doch ein schlichter, kindlicher Sinn verbarg. Sein Vater [Heinrich Jentsch] war damals Kirchen- und Schulrat in Bautzen - gehörte dann als Rat dem neugebildeten Landes-Konsistorium an - seine Mutter [Elise], eine geborene CrusiusJohannes Dittrich schrieb seine Erinnerungen nach seiner Emeritierung. Seine älteste Tochter Thekla (1888-1960) war dann bereits über zehn Jahre lang mit Ernst Crusius (1883-1957) verheiratet. Der Ur-ur-ur-ur-urgroßvater von Ernst Crusius war der Chemnitzer Bürgermeister Atlas Crusius (1616-1679). Die Mutter von Heinrich Jentsch (1848-1918) war Elise Crusius (1821-1910), Tochter des Gutsherrn auf Sahlis und Rüdigsdorf. Sie hatte sechs Kinder. Der Älteste war Heinrich. Der Ur-ur-ur-urgroßvater von Heinrich war ebenfalls der Chemnitzer Bürgermeister Atlas Crusius. Ob Johannes Dittrich geahnt hat, dass sein Schwiegersohn Ernst Crusius mit seinem Leibbursch Heinrich Jentsch verwandt sein könnte?Siehe Wikipedia.org [107], stammte aus einer der angesehensten Patrizierfamilien Leipzigs. Die Notwendigkeit, mit einem knappen Wechsel sich einzurichten wie die meisten unter uns, kannte er nicht. Das gab ihm etwas großzügiges, wie er denn auch schon ziemlich weit in der Welt herumgekommen war und in allerlei Sport und ritterlichen Übungen sich versucht hatte. Auch seine hohe, elegante Gestalt, sein stattlicher, schön gepflegter Bart trug dazu bei, dass er unter uns als etwas Besonderes angesehen, freilich auch von manchen verkannt wurde. Er hatte den Spitznamen Prinz erhalten und musste sich unter demselben allerlei Neckereien gefallen lassen. Aber wie er dieselben stets mit liebenswürdigem Humor aufnahm, so machte er gern andern Freude und erwies ihnen Aufmerksamkeiten und zeigte sich hinwiederum gegen ihn erwiesene auch noch so bescheidene Aufmerksamkeiten dankbar. Dabei war er ein vielseitig begabter Mensch, hatte ein gutes, klar durcharbeitetes theologisches Wissen, auch philosophische und philologische Bildung und dabei künstlerisches Verständnis, war besonders sehr musikalisch. Ich habe mich manchmal gefragt, was er an mir unbedarftem Jüngelchen fände, dass er sich zu mir so hingezogen fühlte, und konnte mich bisweilen des Verdachts nicht erwehren, dass er mit mir spiele. Je länger je mehr habe ich diesen Verdacht als unbegründet erkannt. Sein Sport führte ihn mit allerlei Leuten zusammen, die ihm doch innerlich fern standen. Solche, die ihm innerlich näher standen, hielten sich ihm gegenüber aber wegen des Abstandes der äußeren Lebenshaltung in einer gewissen Reserve - wie mir das noch, als er schon im Amte war, bei Amtsbrüdern entgegentrat - so fühlte er sich etwas vereinsamt, und er freute sich, in mir jemand gefunden zu haben, der ihn verstand und durch die Äußerlichkeiten sich nicht von ihm zurückhalten ließ.
Eine der markantesten Persönlichkeiten im Verein, an weltmännischer Gewandtheit, jedenfalls an Unverfrorenheit Jentsch noch übertreffend, war Schubart, damals auch schon den höchsten Semestern angehörig, ja schon unmittelbar vor dem Examen stehend, deshalb am Vereinsleben nicht mehr regelmäßig teilnehmend. Er war kein großer Gelehrter. Als wir miteinander auf der Theaterterrasse saßen, sagte er zu mir: Glaub mir, ich habe hier
- er zeigte auf das Theater - mehr Theologie gelernt als dort
- er wies auf die Universität hin. Und als ich, nachdem ich Zeuge von dem Ausfall seines Examens geworden, Jentsch etwas enttäuscht berichtete, er hätte nur eine Drei erhalten, sagte dieser zu meiner Überraschung: Ist's wahr? Das hat er nicht verdient. Er hätte eine Vier haben, er hätte durchfallen müssen.
Aber er war eine Persönlichkeit, die wusste, was sie wollte. Wenn er das Wort ergriff, sei es in der wissenschaftlichen Debatte, sei es in äußeren Vereinsangelegenheiten, so traf er stets den Nagel auf den Kopf. Dabei hatte er große praktische Gaben, besonders für die Predigt, die noch unterstützt wurden durch eine klangvolle Bassstimme. Kennzeichnend für ihn war es, als er in der Paulinerkirche seine Seminarpredigt gehalten, von der Kanzel herabsteigend den alten würdigen Küster, der jedem Studenten je nach dem Ausfall seiner Predigt eine feststehende Note zu geben pflegte, ohne ihn zu Worte kommen zu lassen, gleich zurief: Nun, Sie haben mich sehr erbaut - nicht wahr?
Er nahm nach seinem Examen eine Hauslehrerstelle bei einer vornehmen Familie in Kurland an, wurde dann später Kurprediger in Mentone(?), darauf Stiftsprediger in Eisenach und starb als Generalsuperintendent des Herzogtums Anhalt, noch in den letzten Jahren seines Lebens mit der theologischen Doktorwürde geschmückt.
Senior des Vereins war bei meinem Eintreten Behrens aus Jever, neben Jentsch die stattlichste Erscheinung, aber von ihm verschieden wie ein Waldbaum von einem in einem Park gewachsenen. Ich kann von ihm nur sagen, dass er mir viel Freundlichkeit und Nachsicht bewiesen hat. Ende des Semesters verließ er Leipzig. Ebenso Schmidt von Weißenburg, ein kerniger Bayer und ein liebewarmes Gemüt, und Wetzel aus MandelkowMandelkow (heute Bedargowo) ist ein Dorf in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Es gehört zur Gmina Kolbaskowo (Landgemeinde Kolbitzow) im Powiat Policki (Kreis Pölitz).Siehe Wikipedia.org [108] bei Stettin, der mir in der societas holemannia bei meiner alttestamentlichen Disputation opponierte, ein scharfer Dialektiker.
Dagegen war ich die ganze Zeit in Leipzig zusammen mit Wagner und Schnedermann und trat ihnen vor andern nahe. Wagner aus Ebersdorf bei Chemnitz, eine lange, auffallend schmale Gestalt, daher Stift genannt, war eine innige Natur von peinlicher Gewissenhaftigkeit, die sich u. a. darin zeigte, dass er sein Examen wiederholt im Semester hinausschob, bis er es endlich recht gut bestand, auch darin, dass er das Briefkränzchen, in das er mit mir nach seinem Scheiden von Leipzig eintrat, regelmäßig eine lange Zeit, zuweilen Jahr und Tag, unbefördert liegen ließ, weil er vor Erledigung näher liegender Pflichten nicht dazu kam, es zu befördern, nicht ohne pietistische Enge, die sich auch in einem Misstrauen gegen gesellschaftliche Formen zeigte, aber eine treue Seele, und doch auch nicht ohne Humor, ein guter Kumpan, der bei geselligen Zusammenkünften und auf gemeinsamen Spaziergängen gern auf einen Scherz einging und selber neckte. Er war ein besonderer Verehrer Luthardts und daher hoch beglückt, als derselbe ihn für ein Jahr als Famulus annahm, was ihn unter Verwendung seines Namens natürlich allerlei Neckereien zuzog. Er hat dann eine gesegnete Wirksamkeit als Pfarrer an Anstalten in Niederlößnitz entfaltet.
Leibbursch. Ein frisch in eine Verbindung aufgenommener Fuchs kann einen älteren Burschen, zu dem er besonders viel Vertrauen aufgebaut hat, auswählen, sein Leibbursch zu werden, wodurch der Fuchs gleichzeitig zum Leibfuchsen dieses Burschen wird.
[107] Johannes Dittrich schrieb seine Erinnerungen nach seiner Emeritierung. Seine älteste Tochter Thekla (1888-1960) war dann bereits über zehn Jahre lang mit Ernst Crusius (1883-1957) verheiratet. Der Ur-ur-ur-ur-urgroßvater von Ernst Crusius war der Chemnitzer Bürgermeister Atlas Crusius (1616-1679). Die Mutter von Heinrich Jentsch (1848-1918) war Elise Crusius (1821-1910), Tochter des Gutsherrn auf Sahlis und Rüdigsdorf. Sie hatte sechs Kinder. Der Älteste war Heinrich. Der Ur-ur-ur-urgroßvater von Heinrich war ebenfalls der Chemnitzer Bürgermeister Atlas Crusius. Ob Johannes Dittrich geahnt hat, dass sein Schwiegersohn Ernst Crusius mit seinem Leibbursch Heinrich Jentsch verwandt sein könnte?
[108] Mandelkow (heute Bedargowo) ist ein Dorf in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Es gehört zur Gmina Kolbaskowo (Landgemeinde Kolbitzow) im Powiat Policki (Kreis Pölitz).