Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 14:
Heimreise mit Sonnenfinsternis
Schon aus dem bisher gesagten wird deutlich sein, welch ein reiches Leben es war, in das ich in Leipzig eingetaucht wurde, und wie viel ich zu erzählen hatte, wenn ich in den Ferien nach Hause kam. Das sollte nach dem ursprünglichen Plan zum ersten Mal Ostern 1871 sein, da die Reise zu weit war, um ein öfteres Reisen zu empfehlen. Allein schließlich wurde es doch anders beschlossen. Der Krieg zog sich nach der
Katastrophe von SedanDie Schlacht von Sedan fand am 1. und 2. September 1870 im Deutsch-Französischen Krieg statt. Der deutsche Sieg war vorentscheidend für den Ausgang des Krieges. Auf französischer Seite hatte die Kapitulation der französischen Truppen und die Gefangennahme des Kaisers Napoléon III. die Ausrufung der Republik zur Folge.Siehe Wikipedia.org [95]
doch länger hin, als man anfangs gehofft. Alexander musste das Weihnachtsfest im Felde verleben. Ohnehin kamen Anfang Dezember, wo er bei Champigny in Reserve gestanden hatte und die
KartätschenIn der Waffentechnik bezeichnet man als Kartätsche (vgl. engl. cartridge) ein Artilleriegeschoss mit Schrotladung. Diese wird je nach Bauart auch Traubenhagel, Traubenmunition oder Traubhagel genannt.Siehe Wikipedia.org [96]
um ihn herumflogen, dass er nur wie durch ein Wunder mit heiler Haut davon kam, bange Tage für uns. So beschloss Vater, wenigstens mich zu Weihnachten kommen zu lassen. Daher fuhr ich nach dem Kollegschluss am 21. Dezember vorläufig bis Berlin, um bei Lindemann, der dort studierte, zu übernachten und am folgenden Tage mit ihm die Reise nach Hause fortzusetzen. Es war eine Reise mit Hindernissen. Am Nachmittag setzte scharfe Kälte ein, und bei der starken Frequenz hatten wir schon bis Berlin zwei Stunden Verspätung, so dass Lindemann, der auf dem damals höchst mangelhaften und ungemütlichen Anhalter-Bahnhof mich erwartet hatte, mich mit Schimpfen empfing. Noch interessanter wurde die Sache am folgenden Tage, wo wir nach dem Mittagessen am akademischen Mittagstisch das Erreichen des Zuges nur dem Umstande zu verdanken hatten, dass derselbe mit starker Verspätung schon abfuhr. Dazu zeigte sich's erst auf dem Bahnhof, dass wir nicht mehr Geld hatten. Lindemann war auf der Neige, und ein Braunschweigischer Geldschein, den ich abgab, wurde weder am Schalter noch in der Restauration angenommen. So mussten wir das Fehlende von einem zufällig gerade vorübergehenden Bekannten pumpen. An Aufgeben des Gepäcks war ohnehin nicht mehr zu denken, so dass wir unterwegs in Anlehnung an das bekannte Reutersche Gedicht uns wiederholt zuriefen: Wat heet perdu?
Verloren!
Dann ward uns Kuffert woll perdu sin.
Nun, nachdem verschiedentlich Wagen an den Zug angehängt waren, kamen wir glücklich in einem Abteil zweiter Klasse unter, weil alles andere besetzt war. Draußen war gerade eine
totale SonnenfinsternisEs war die Sonnenfinsternis vom 22. Dezember 1870 um 12:27:33 Uhr [97],
und die Temperatur sank immer tiefer, so dass man den Schnee bald knirschen hörte. In Stettin wurde unser Wagen abgehängt. Ich blieb bei dem Handgepäck, das uns ein gutmütiger Gepäckträger nachgetragen, und Lindemann ging in die Bahnhofsrestauration, wo er glücklich meine Braunschweiger Scheine einwechseln konnte, so dass wir das Trinkgeld, das ein ehrsamer Bierbrauer, der mit uns fuhr, uns für jenen Gepäckträger vorgeschossen, diesem wiedergeben konnten. In Stettin kamen wir wieder nur nach vergeblichen Bemühungen, in einem Abteil dritter Klasse unterzukommen, nachdem wir uns durch lautes Schimpfen Unterbringung in einem Abteil zweiter Klasse verschafft hatten, mit. Auch in Stargard wurde unser Wagen abgehängt, und die Scene aus Stettin wiederholte sich, bis wir mit Ernst Kühn, der sich unterwegs auch zu uns gefundenen, in einem Dienstabteil untergebracht wurden. Von hier konnten wir wenigstens bis Cöslin sitzen bleiben, fühlten aber die immer grimmiger werdende Kälte. Lindemann wärmte sich durch Zigarrenrauchen - er behauptete, auf dieser Reise ein Dutzend aufgeraucht zu haben - ich verkürzte mir die Zeit, indem ich ein Studentenlied nach dem andern anstimmte. Die Mitreisenden wurden schließlich auch auf uns aufmerksam, denn wenn ich mit Singen pausierte, rief eine Stimme aus dem Nebenabteil: Sie, junger Leipziger, singen Sie uns noch eins.
Endlich kamen wir, ich glaube erst nach Mitternacht, bei
18°R.R ist das Zeichen für Grad Réaumur. Umrechnung nach Celsius: Rx1,25, in diesem Fall also 18°R x 1,25 = 22°C. Da es 1870 noch richtige Winter gab, weil die Klimaerwärmung noch nicht stattgefunden hatte, vermute ich stark, dass es sich um Minusgrade handelte, obwohl in der Originalhandschrift kein Minuszeichen steht. [98]
in Cöslin an. Lindemann nahm ich mit mir. Mit Jubel wurden wir empfangen. Mutter teilte mir freilich gleich mit, dass der Großvater [Wilhelm Rogge] anscheinend im Sterben liege... Als wir am andern Tage zu Tische saßen, kam die Depesche an, die seinen Heimgang meldete.
Glücklicherweise milderte sich die Kälte im Fest etwas, sodass Mutter es wagen konnte, am zweiten Festtag zur Beerdigung nach Groß Tinz, wohin die Leiche von Bunzlau aus überführt wurde, zu reisen. Großvater hatte beim Tode der Großmutter geäußert: Bei uns wird's wohl nach dem Bibelwort gehen: Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es 80 Jahre.
Und so war's gekommen. Denn von seinem Geburtstage an, an dem er sein 80. Lebensjahr vollendet, dem 12. Dezember, hatte er eigentlich im Sterben gelegen. Mutter kehrte nach der Beerdigung möglichst rasch zurück. Aber ein etwas gestörtes Fest war dies erste nach meinem Ausflug aus dem Vaterhause doch. Als ich am 8. Januar früh wieder von Hause Abschied nahm, entließ mich Mutter mit den Worten: Studiere nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen.
[96] In der Waffentechnik bezeichnet man als Kartätsche (vgl. engl. cartridge) ein Artilleriegeschoss mit Schrotladung. Diese wird je nach Bauart auch Traubenhagel, Traubenmunition oder Traubhagel genannt.
[97] Es war die Sonnenfinsternis vom 22. Dezember 1870 um 12:27:33 Uhr
[98] R ist das Zeichen für Grad Réaumur. Umrechnung nach Celsius: Rx1,25, in diesem Fall also 18°R x 1,25 = 22°C. Da es 1870 noch richtige Winter gab, weil die Klimaerwärmung noch nicht stattgefunden hatte, vermute ich stark, dass es sich um Minusgrade handelte, obwohl in der Originalhandschrift kein Minuszeichen steht.