Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 21:
Meine erste Predigt
Mein drittes Universitätssemester wurde mir besonders dadurch bedeutsam, dass ich in ihm meine erste Predigt hielt. Vater hatte einst auch in seinem dritten Semester seine erste Predigt gehalten, und zwar am 4. Advent, der damals gerade auf den Heiligen Abend vor Weihnachten gefallen war, über die Sonntagsepistel. Schon als ich noch auf der Schule war, hatte ich mir ausgerechnet, dass in meinem 3. Semester wieder der 4. Advent auf Christabend fallen würde und hatte die Absicht ausgesprochen, dann auch zum ersten Mal zu predigen. Vater hatte mich ermuntert, das nur im Auge zu behalten. So machte ich mich denn in den Wochen vor Weihnachten daran, eine Predigt über die Epistel auszuarbeiten. Den Text nahm ich mit Hilfe der Kommentare von Meyer und Wiesinger durch. Bei der Ausarbeitung befruchtete besonders Paul Gerhardts Wie soll ich dich empfangen
meine Gedanken. Zum Thema nahm ich das Wort Der Herr ist nahe
und zeigte, wie die Nähe des Herrn Freude, Lindigkeit, Sorglosigkeit in uns wirken müsse und wie sie uns den Frieden Gottes bringe. Vater hatte inzwischen mit dem
ArchidiakonusDer Titel Archidiakon bezeichnet in der Geschichte der deutschen evangelischen Kirchen den geistlichen Würdegrad des zweiten ordinierten Theologen einer evangelisch-lutherischen Pfarrgemeinde.Siehe Wikipedia.org [125] Rauschke an St. Marien, der die Nachmittagspredigt an diesem Sonntag hatte, vereinbart, dass er sie mir überlassen solle. Es war vorauszusehen, dass sehr wenige Menschen an diesem Tage und zur Nachmittagsstunde kommen würden, so war die Verborgenheit, die für eine Erstlingspredigt erwünscht ist, genügend gewährleistet. Überdies hatte Vater versprochen, wenn meine Predigt seine Zensur nicht passiere, selber einzutreten. So konnte denn mit Fug und Recht für den Nachmittag des 4. Advents statt des Namens des Predigers das Wort Unbestimmt
gedruckt werden. In Berlin, wo ich einige Stunden Aufenthalt hatte und wie gewöhnlich ins Kriegsministerium ging, erzählte ich meine Absicht. Onkel Roon maß mich von oben bis unten und sprach: Du willst predigen?
Tante fügte, das Erstaunen teilend, hinzu: Du bist doch höchstens 23 Jahre alt.
Nein, liebe Tante
, erwiderte ich, ich bin erst 19.
Aber
, entgegnete sie, du bist doch nicht fünf Jahre jünger als dein Bruder Alexander.
Ich sagte: Nein, ich bin nur 16 Monate jünger als er.
Aber
, sagte sie, deine Mutter hat mir doch dieser Tage erst geschrieben, Alexander wäre jetzt mündig geworden.
Nun war es am Onkel, sich über seine Frau lustig zu machen: Hahaha! Ist sie noch fünf Jahre hinter der Weltgeschichte zurück.
Unterwegs sagte ich mir meine Predigt dann immer wieder im Kopfe durch. Vater fragte natürlich, als ich abends zu Hause ankam, gleich nach meiner Predigt, ließ sie sich zeigen, schrieb sein Approbatumlat. approbatio: Billigung, Genehmigung [126] darauf und fragte mich, ob ich auch ganz sicher wäre. Als meine Antwort ihm nicht bestimmt genug lautete, verlangte er, dass ich den ganzen folgenden Tag - es war Sonnabend - mich damit beschäftigte, und sie festlegte, war auch höchst unzufrieden, wenn er mich mit irgendetwas anderem beschäftigt sah. Sonntagvormittag blieb ich nun, während die übrigen zur Schlosskirche gingen, mit Mutter allein zurück und hielt ihr meine Predigt genau so, wie ich sie in der Kirche halten würde, einschließlich Kanzelgruß, Ankündigung des Textes, Vaterunser und Segen. Sie machte mich auch noch auf die Stellen aufmerksam, wo ich vielleicht stocken könnte. Gegen zwei Uhr ging ich dann zur Kirche. Vater, Alexander und Jonathan gingen mit, die übrigen riskierten es nicht. Ich danke es meinen Eltern, dass sie mich auf genauestes Auswendiglernen gewiesen. Denn es war doch ein eigenes Gefühl, als ich auf der Kanzel stand und die Orgel schwieg. Meine Stimme klang mir auch ganz fremd, als ich anfing zu sprechen. Aber es ging alles ohne Anstoß. Die Menschen, es waren ihrer wohl nicht mehr als zehn in der ganzen Kirche, sah ich nicht. Zuletzt ereignete sich noch ein komischer Zwischenfall. Die Predigt war ja nicht sehr lang. Um dreiviertel drei etwa sagte ich Amen. Aber die Orgel, die nun zum Schlussverse einsetzten sollte, schwieg. Der Bälgetreter hatte auf so baldigen Schluss des Gottesdienstes nicht gerechnet, war weggegangen und noch nicht wiedergekommen. Früher hatte der Organist, ein begabter Musiker, aber dissoluter Mensch, etliche Male während der Predigt das Gotteshaus verlassen und sich rechtzeitig nicht wieder eingestellt. Diesmal war er doch geblieben, da ihn der junge Prediger interessierte. Als nun die Orgel keinen Ton von sich gab, trat er an die Brüstung der Orgelempore und zuckte gegen die Weggehenden die Achseln, als wollte er sagen: diesmal liegt's an mir wirklich nicht. Alexander nahm daher Veranlassung zu erzählen, am Schluss meiner Predigt sei mir der Wind ausgegangen.
Als ich nach Neujahr nach Leipzig zurückkehrte, kehrte ich auch wieder bei Roons ein und musste Tante Anna, der Mutter inzwischen schon geschrieben hatte, von meiner Predigt erzählen. Bei Tisch fing sie dann wieder davon an und sprach zu Onkel: Johannes hat mir von seiner ersten Predigt erzählt und dass es ihm gut gegangen und er nicht stecken geblieben ist.
Onkel antwortete: Ei, was wird er denn stecken bleiben. Er braucht ja nur weiter zu reden, dann bleibt er nicht stecken.
Eine Regel von verblüffender Einfachheit, die sich aber meistens bewähren wird. Dann fragte er noch, als er hörte, dass es, eine Nachmittagspredigt gewesen: Hast du denn einen Menschen gesehen, der nicht schlief? Ich halte nämlich so eine Nachmittagspredigt für eine vorzügliche Einrichtung für einen guten Kirchenschlaf, denn über den geht nichts.
Auch meinen Professoren in Leipzig erzählte ich von meiner ersten Predigt. Luthardt sagte: Und Sie sind nicht stecken geblieben? Das kann ich mir denken, das erste Mal passiert das nicht so leicht, da memoriert man genau. Beim zweiten Mal kommt es schon eher vor.
Ich dachte: Das sollst du mir nicht umsonst gesagt haben.
[126] lat. approbatio: Billigung, Genehmigung