15Jan2008

Erinnerungen an gestern und übermorgen
oder
Ein Leitartikel, der zu lang geraten ist

von Günter Matiba Günter Matiba

Was haben wir nicht alles erlebt seit der letzten Ausgabe von Erinnerungen… Nr.4/2007! Ich meine nicht das Private, sondern das Allgemeine, das uns alle etwas angeht.

Am 31. Oktober trieb das ruppige und grausige Halloween sein Unwesen. Von angelsächsischen Staaten herübergeschwappt, möchte es gerne unseren deutschen Rummelpott und das Sternsingen verdrängen, hat es aber (noch) nicht geschafft. Am selben Tag jährte sich zum 490. Mal Dr. Martin Luthers Thesenanschlag an die Schlosskirche zu Wittenberg, der die Reformation einleitete und zumindest das Abendland in geistiger Hinsicht veränderte.

Dann die stillen Feiertage Allerheiligen und Allerseelen, der Volkstrauertag und der Totensonntag, an denen wir der Verstorbenen gedenken.

Es folgte die Adventszeit, die vom Sinn und Namen her eine stille Zeit der Erwartung sein soll, aber im Gegenteil mitunter schon seit Ende September überlagert wird vom lärmenden Weihnachtsgeschäft nach der Melodie Süßer die Kassen nie klingeln, als zu der….

Am 6. Dezember polterte der etwas ungehobelte, aber gutmütige Nikolaus durch Straßen und Stuben, bescherte Kinder und half hier und da robust bei der Erziehung nach, wenn es sein musste. Zum Beispiel hatte er mir damals als sechsjährigem Kind kraft seiner beeindruckenden Persönlichkeit und kernigen Worte glücklicherweise das Daumenlutschen abgewöhnt. Oft begleitete ihn sein finsterer Geselle Knecht Ruprecht, in Österreich Krampus genannt, der nur zum Strafen da ist.

Endlich mit viel Gefühl, Kerzenlicht und Musik, Heiligabend und Weihnachten. Aber leider sind viele dann von dem ganzen Trubel vorher so erledigt, dass kaum noch Freude aufkommt, auch weil sie vorweggenommen worden ist. Ganz anders vor knapp 70 Jahren, als ich als Kind, wie die anderen auch, am 24./25. Dezember vor Erwartung fast geplatzt wäre.

Es folgten mit Riesengetöse und dicken Pulverschwaden Silvester und Neujahr. Mit -zig Millionen schwer erarbeiteten Euro ließen spaßbesoffene (Verzeihung, freudetrunkene) Menschen im ganzen Land den Nachthimmel durch ein wunderschönes, gigantisches Feuerwerk erstrahlen und die Straßen mit ungeheuren Abfallmengen verdrecken. Mancher Finger, manche Hand, manches Auge und manches Trommelfell mussten dran glauben.

Die Heiligen Drei Könige sind inzwischen angekommen und weitergezogen.

Achtung, teilweise Satire! Vieles beruht auf Fakten und dem Stand der Wissenschaft von heute. Es muss ja nicht falsch sein.

Warum beschäftige ich mich ausschließlich mit dem Vergangenen?! Spielen wir mal den römischen Gott Janus, den mit dem Doppelgesicht, der gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft schauen konnte, also nach hinten und nach vorne. Was sehen wir Menschen da vorne? - Nichts Genaues. Richtig. Nur Vermutungen. Aber schön zum Spekulieren. - Oder ein anderes Spiel: Versetzen wir uns doch mal in die Zukunft und blicken von dort zurück.
Wenn die berühmte gute Märchenfee käme und mir einen Wunsch gewährte, würde ich - brennend vor Neugierde - ohne Zögern sagen: Lass mich bitte in 300 Jahren für 4 Wochen lebendig werden, liebe Fee. Ich möchte sehen, was bis dahin geschehen ist, wie es unseren Nachkommen geht und welche Fragen sie plagen.

Was sind schon 300 Jahre? könnten Sie fragen. Sehr viel, würde ich antworten, bedenken Sie zum Beispiel nur, dass wir vor ungefähr 300 Jahren weltweit eine kleine Eiszeit hatten und in einigen deutschen Landen noch die 'Heilige Inquisition' als Teil der staatlichen Rechtsprechung galt und Menschen unter grausamster Folter als Hexen verurteilt und hingerichtet wurden. - Aber dafür haben wir jetzt den Dschungelcamp im kommerziellen Fernsehen, könnten Sie antworten, worauf ich mich dann argumentativ fast geschlagen geben müsste.

Sprechen die Menschen hier dann eine Sprache, die ich überhaupt verstehe? Sind unsere Sitten und Gebräuche erhalten geblieben, haben sich neue gebildet?

Sind die jetzt befürchteten Folgen eines Klimawandels eingetreten? Liegt durch den Anstieg des Meeresspiegels Hamburg wie das legendäre Rungholt bereits in der Nordsee? Ist Norderstedt eine Küstenstadt geworden mit Segelbooten vor dem Gartenzaun, Sandstrand und Palmen, aber auch mit regelmäßigen Wirbelstürmen? Wühlen sich Tarpenbek und Kollau als Gezeitenpriele durch den Schlick? Beim hügeligen Bad Segeberg könnten sich in einer unzugänglichen Bucht am Fuße des höhlendurchsetzten Kalkberges unweit des heutigen Finanzamtes Piraten eingenistet haben. Historisch gesehen, eine logische Weiterentwicklung.

Hat der Mensch die am Nordpol gefährdeten Eisbären in die Antarktis umgesiedelt, wo es Robben und Pinguine in Hülle und Fülle zu fressen gibt?

Was ist aus der Landesgartenschau, der Energiefrage, dem Euro, den Managergehältern, den Banken, Börsen, Aktien, Hartz IV oder dem Autobahnanschluss Norderstedt-Mitte geworden? Gibt es überhaupt noch Autos, oder verkehren nur Lufttaxis mit umweltfreundlichem Photonen- oder sogar Antimaterie-Antrieb?

Hat man seniorenfeindliche Fahrkartenautomaten und benutzerunfreundlichen Computer verschrottet und durch Geräte ersetzt, die auf Gedankenbefehle oder zumindest auf Sprache reagieren?

Haben der medizinische Fortschritt und die Gentechnik das durchschnittliche Lebensalter der Menschen bis auf das heute bekannte Maximum von 125 Jahren und das Rentenalter auf 100 Jahre erhöht? Oder wird aus Kostengründen mit Vollendung des 60. Lebensjahres konsequent ein sozialverträgliches und humanes Frühableben unter staatlicher Aufsicht gesetzlich vorgeschrieben?
Ist dann das Problem mit der Gesundheits-Chipkarte so genial gelöst, dass jedem neugeborenen Kind automatisch der Chip unverlierbar und vor Missbrauch sicher auf der Rückseite der Ohrmuschel implantiert wird?
Wenn einem morgens alle Knochen weh tun und man sich schlapp und müde fühlt, braucht man dann nicht mehr den Hausarzt aufzusuchen, sondern zeigt seinem PC die Zunge und befühlt die Maus, worauf mit Lichtgeschwindigkeit die richtige Diagnose mit Therapieanweisungen von der ärztlichen Zentrale auf dem Bildschirm erscheint?
Werden Notfallpatienten nicht mehr mit Blaulicht und Martinshorn über schikanenbewehrte und mit Rüttelschwellen bestückte, so genannte verkehrsberuhigte Straßen in die Klinik geschüttelt, sondern sanft auf den OP-Tisch gebeamt wie einst Captain Kirk und seine Crew im Raumschiff Enterprise?
Brauchen Menschen noch Viagra und die Antibabypille, oder hat bereits die staatliche Klonierungs-zentrale eine ausgeklügelte und rentensichere Familienplanung per Retorte übernommen mit dem Nebeneffekt, dass die Übervölkerung der Erde kein Problem mehr darstellt? Die Frauen müssten dann nicht mehr die Last der Schwangerschaft und des Gebärens tragen. Der Mann wäre ein auslaufendes biologisches Modell und Emma Pflichtlektüre in der Grundschule.

Werden fast alle Arbeiten von Robotern ausgeführt, und zählt deshalb der Besitz eines Arbeitsplatzes zu den besonderen Vorrechten verdienstvoller Menschen, feierlich verliehen wie ein Orden und aberkannt bei schlechter Führung?

In Deutschland (wenn unser Land dann noch so hieße oder schon den Namen Türlen oder Polei trüge) könnte man die Todesstrafe wieder eingeführt haben, aber nur für überführte Raucher, indem man die Delinquenten durch eine Überdosis Nikotin mit der Spritze bei örtlicher Betäubung human hinrichtet. Ich bin mir jedoch fast sicher, dass auch in Zukunft unser Land Anspruch darauf erhebt, ein fortschrittlicher, zivilisierter Staat mit ethischen Grundwerten zu sein und nicht die Scharia eingeführt hat.

Was wird man in den Geschichtsbüchern und Computerdateien über Kanzlerin Merkel, Präsident Putin, den Seniorenbeirat oder die Erinnerungswerkstatt Norderstedt finden? Gibt es die Staatsform Demokratie überhaupt noch oder regiert von der UNO aus der weltweit anerkannteste Philosoph diktatorisch für 7 Jahre? Oder hat internationales Verbrechertum die Macht an sich gerissen? Oder haben die Genforscher es geschafft, aus dem menschlichen Genom (Erbgut) die DNA-Abschnitte für die negative Aggressivität zu eliminieren, so dass Gewalt, Verbrechen und Krieg Fremdwörter geworden sind?

Benutzen Menschen unseren Mond und/oder andere Planeten samt ihren Monden und kosmische Kleinkörper als Rohstofflieferanten oder sind sie dorthin geflohen, weil vielleicht auf der Erde Kriege oder noch unbekannte Krankheitserreger in verheerenden Pandemien menschliches Leben ausgelöscht oder unerträglich gemacht haben?

Hat der Schöpfer aller Dinge vielleicht ein gnädiges Einsehen mit den vielen Religionen gezeigt, in deren Namen die Gläubigen sich oft so intolerant, verbohrt und blutrünstig gebärden, und er sich deswegen allen Menschen als Göttin Vernunft offenbart? Oder hat er wenigstens einen von allen Menschen anerkannten Messias geschickt?

Oder hatte der Kosmos die Nase voll von dem elektromagnetischen Wellensalat, den Menschen aus-strahlen, beladen mit unvorstellbar vielem geistigen Schund? Zum Beispiel Talk-Shows am Nachmittag, Doku-Soaps (schon der Name ist eine geistige Kastration) Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! Oder Deutschland sucht den Superstar. Worauf er einen großen Asteroiden, Kometen oder Meteoriten zu einem intimen Rendezvous mit Mutter Erde schickte. Vielleicht ist es sogar der Planetoid namens Eros, der sich wie viele andere auch in bedrohlicher astronomischer Nähe tummelt.- Bums! - Und seitdem herrscht wieder sittliche Ruhe im galaktischen Funkverkehr, allerdings um den Preis, dass das meiste Leben ausgelöscht wurde. Die wenigen überlebenden Menschen vegetieren in versprengten Horden, bekleidet mit groben Fellen oder Blätterröckchen, dürfen einen Neuanfang wagen und müssen erst mühsam wieder eine Zivilisation aufbauen und den Weinstock veredeln.

Doch mit Eros hätte es der Kosmos nicht so leicht, weil der gut erforscht ist und sich mit ein paar geziel-ten Wasserstoffbomben vom Kollisionskurs abbringen ließe, falls sich die Völker der Erde ausnahms-weise einmal einig wären.

Meistens kommt es anders, als man denkt, lautet ein altes Sprichwort. Wahrscheinlich wird es auch in 300 Jahren seine Richtigkeit beweisen.

Der Karneval wird uns wohl erhalten bleiben in allen seinen mannigfaltigen regionalen Erscheinungs-formen. Er entspricht nämlich dem uralten Bedürfnis einer großen Zahl von Lebewesen der Art Homo sapiens sapiens, eine gewisse Zeitspanne im Jahr in aller Öffentlichkeit mit Billigung der höchsten kirchlichen Instanz im wahrsten Wortsinn ver-rückt sein zu dürfen. Wobei der Sittenwächter und Kontrolleur 'Kopf' gegenüber dem Genießer 'Bauch' (der entwicklungsgeschichtlich älter ist) die Zügel schleifen lässt.

In einem bin ich mir ganz sicher, die gute Fee wird nicht kommen und mich nach meinem Wunsch fragen.

Deshalb setze ich mich gemütlich und gelassen vor das flackernde Kaminfeuer, trinke in aller Ruhe ein Glas Wein und warte fröhlich auf Ostern und den schönen Frühling, der mit Sicherheit bald kommen wird. Es wird ein Superjahr, das alte war gar nicht so schlecht, habe ich neulich einen Schlagersänger aus Bremen singen hören.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ein gutes, neues Jahr.

Nachwort
Der rheinische Karneval, Hand auf's Herz, ist für (uns) Norddeutsche emotional ein bisschen anstrengend, selbst mit viel Lütt un Lütt als Anschubhilfe. Sehr gerne aber mag ich die jährlichen Mottos. Sie sind wie der ganze Karneval so herrlich deftig und drücken unschlagbar kurz und knackig in der jeweiligen Mundart eine positive Geisteshaltung aus, die in ihrer Wurschtigkeit und Lebensechtheit nicht zu überbieten ist.

Unvergesslich sind mir diese beiden:

Se kreje os net kapott! Aachen, in den 50er Jahren.
Wat kütt, dat kütt! Köln, das Jahr ist mir nicht mehr bekannt. - Übersetzt für diejenigen, die zwar Kölsch trinken, aber nicht verstehen können: Was kommt, das kommt.

Dann bis die Tage.
Mach'n S' es gut. Tschüskes.
(Das ist Slang außem Ruhrpott).

Günter Matiba, 15. Januar 2008