8Okt2022

Das Eisenbahngleichnis, Gedicht von E. Kästner

Das Eisenbahngleichnis

Erich Kästner

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft. Ein anderer klagt.
Der Dritte redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.
Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.

Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür hinein
und lächelt vor sich hin.
Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.

Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.
Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.

Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit
Und niemand weiß, warum.
Die I. Klasse ist fast leer.
Ein dicker Mann sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.

Die Mehrheit sitzt auf Holz.
Wir reisen alle im gleichen Zug
zur Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug.
Und viele im falschen Coupé.

Unvergessen: Erich Kästner

 

Emil Erich Kästner (* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter. Seine publizistische Karriere begann während der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten, Glossen und Essays in verschiedenen renommierten Periodika jener Zeit.

Nach Beginn der nationalsozialistischen Diktatur war er einer der wenigen intellektuellen und zugleich prominenten Gegner des Nationalsozialismus, die in Deutschland blieben, obwohl seine Werke zur Liste der im Mai 1933 als undeutsch diffamierten verbrannten Bücher zählten und im Herrschaftsbereich des NS-Regimes verboten wurden. Kästner war als einziger der Autoren bei der Verbrennung seiner Bücher anwesend. Wikipedia.org/Erich_Kästner