15Feb2022

Warum gibt es die Erinnerungswerkstatt?

Hartmut Kennhöfer

Mai 1945, der Zweite Weltkrieg geht zu Ende und hinterlässt Trümmer, Ruinen, Leid und Not. Das Tausendjährige Reich ist am Ende, sein Führer hat sich selbst gerichtet. Der Winter 1946/47 ist der härteste und kälteste des Jahrhunderts, die Menschen, die in Ruinen und Behelfsheimen hausen, kämpfen ums Überleben. Kohlen werden von den Zügen geklaut, die wenige Habe bei den Bauern für ein paar Kartoffeln getauscht.

Nach der Währungsreform 1948 gibt es wieder Lebensmittel zu kaufen, die Lebensmittelmarken werden abgeschafft und langsam beginnt der Wiederaufbau der Städte. Mit dem European Recovery Program, im Volksmund nur Marshallplan genannt, beginnt in Westdeutschland das sogenannte Wirtschaftswunder. Die Erinnerungen an NS-Herrschaft, Diktatur und Krieg werden verdrängt. So wird das Wirtschaftswunder zum Deckel für die dunklen Jahre, wie man jetzt verhüllend sagt. Eine Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes findet nicht statt.

Als Nachkriegskind bin ich in einer, 1950 erbauten Siedlung am Stadtrand des im Kriege zerstörten Hamburgs aufgewachsen. Die Häuser boten keinen Komfort, nur ein Dach über dem Kopf, hatten aber große Gärten, aus denen sich die Familien mit Obst und Gemüse versorgten. Auch Hühner und Enten wurden aufgezogen und gefüttert, bis sie schlachtreif waren. Die Erzählungen meiner Eltern aus ihrer Heimat, aus der sie im Januar 1945 vor den russischen Truppen flüchteten, und die vagen Andeutungen meines Vaters von seinen Erlebnissen als U-Boot-Funker weckten meine Neugier. Doch auf meine Fragen erhielt ich keine Antworten: Lass mich mit dem Schei … in Ruhe, hieß es regelmäßig. Auch später, in der Schule, fand die jüngere deutsche Geschichte nicht statt. Wir lernten zwar etwas über Karl den Großen und Kaiser Barbarossa, erfuhren aber nichts über das Kaiserreich in Deutschland, nichts über zwei Weltkriege, die von Deutschland ausgingen, nichts über Diktatur und Faschismus.

Im November 2004 erhielt ich die Gelegenheit, mich an einem Projekt zu beteiligen, das es sich zur Aufgabe machte, Zeitzeugen zu suchen, um sie nach dem Erlebten aus der NS-Zeit, den Kriegs- und Nachkriegsjahren zu befragen. Oral History, die mündliche Überlieferung der jüngeren Geschichte durch Zeitzeugen, machten wir uns zur Aufgabe. Als eines der ersten Zeitzeugenprojekte nutzen wir von Anfang an konsequent das Internet zur Veröffentlichung dieser Berichte. Hatten Historiker bislang die Zusammenarbeit mit Zeitzeugen abgelehnt mit der Begründung, es werde dann zu emotional, änderte sich nun die Einstellung, weil bei der Aufzählung reiner Fakten und Zahlen das dahinterstehende menschliche Leid nicht gebührend berücksichtigt wird. Junge Frauen, fast noch Kinder, wurden zur Wiedergutmachung für Jahre nach Sibirien verschleppt, um dort harte Arbeit zu verrichten. Die letzten Kriegsgefangenen kamen erst 1956 nach Hause zurück, viele traumatisiert und gesundheitlich ruiniert. Für viele lag dieses Zuhause jetzt in Polen oder der sowjetischen Besatzungszone, sie hatten auch ihre Heimat verloren. 12 bis 14 Millionen Menschen waren kurz vor Kriegsende aus ihrer Heimat geflohen oder von dort vertrieben worden. Die Integration so vieler Menschen bei denen, die ausgebombt und ohne Wohnung waren, war nicht einfach, Neid und Missgunst waren an der Tagesordnung.

Nach über siebzehn Jahren besteht die Erinnerungswerkstatt heute aus vielen Engagierten, die das Projekt weiter vorantreiben. Mittlerweile haben 83 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in mehr als 1750 selbst erlebten Geschichten von den teils grausamen Erlebnissen im faschistischen Deutschland, aus dem Zweiten Weltkrieg und den Jahren danach, berichtet. Auch von den politischen Verwerfungen im geteilten Deutschland, im Westen Wiederaufbau, im Osten Stagnation handeln Berichte und natürlich kommen die Geschichten nicht zu kurz, die uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Alle diese Berichte können im Internet auf der Homepage der Erinnerungswerkstatt nachgelesen werden. Für diejenigen, die lieber ein Buch in die Hand nehmen, haben wir zusammen mit unserem Verleger bereits drei Bücher herausgebracht. So versuchen wir, möglichst viele Berichte zu sammeln und zu archivieren. Wir wollen damit helfen, eine Zeit, die als die dunklen Jahre tituliert wurde, zu erhellen, begreifbar zu machen. Wir wollen damit den jüngeren helfen, die diese Zeiten nicht erleben mussten, zu verstehen, welche Mechanismen und politischen Kräfte damals am Werk waren und wohin es geführt hat. Wir hoffen, dass solche Zeiten nie wiederkehren und engagieren uns daher für Demokratie und Toleranz.

2020 wurde das Projekt Erinnerungswerkstatt für ihr Engagement und Zivilcourage vom Bündnis für Demokratie und Toleranz in Berlin als ideenreich und wirkungsvolles Beispiel zivilen Engagements mit einem Preis ausgezeichnet.

Wir suchen weiterhin nach Zeitzeugen, die aus Kriegs- und Nachkriegszeiten und dem Leben in der DDR berichten können und stellen dafür unsere Autorenplattform zur Veröffentlichung kostenlos zur Verfügung. Willkommen ist jeder, der mitmachen will, auch als gelegentlicher Gast. Der Besuch ist zwanglos und verpflichtet zu nichts, außer mit seinen Erinnerungen ehrlich umzugehen und nur selbst erlebtes zu berichten.

Wenn wir Ihr Interesse geweckt haben, schreiben Sie uns via Kontaktformular oder rufen Sie uns an: 040 – 947 98 919 (AB) - Wir rufen zurück.

Hartmut Kennhöfer, 15. Februar 2022