2Nov2022

Geburtstage – die wird volljährig

Hartmut Kennhöfer

Mit der Zeit ändert sich die Einstellung zu den Geburtstagen. Hatte man sich in jungen Jahren auf das wiederkehrende Ereignis schon wegen der vielen Geschenke, der Gäste und der Feier gefreut, lässt die Freude mit den Jahren mehr oder weniger stark nach. Geschenke, die überraschen können, gibt es kaum noch. Außerdem, was sollen die Gäste denn jemandem schenken, der schon alles hat, beziehungsweise nicht mehr alles braucht?

Und doch gibt es bestimmte Geburtstage, auf die man sich freut und die man so richtig gerne feiert. Der diesjährige Geburtstag der zum Beispiel. Als die beiden Gründungsväter am 2. November 2004 das Konzept für eine Zeitzeugengruppe in Norderstedt fertig ausgearbeitet hatten, konnten sie nicht wissen, wie groß das Interesse an so einer Einrichtung sein würde. Von Anfang an hatten sie vor, die gesammelten Erinnerungen mit der Welt zu teilen. Deshalb war es nur logisch, ein modernes Medium zu nutzen, um die Texte allen Interessierten zugänglich zu machen. Kümmerte sich einer von beiden um die redaktionelle Bearbeitung der Zeitzeugenberichte, stellte der andere sie über die neu erstellte Internetpräsenz -Norderstedt.de ins Netz.

, der Name macht deutlich, dass Erinnern durchaus Arbeit sein kann und dass in der Erinnerung das Fundament unserer Gegenwart liegt. Der Zusatz Norderstedt sollte lediglich den Gründungsort deutlich machen. Das Bestreben war von Anfang an, diese Plattform weltoffen, tolerant und kritikfähig zu betreiben. So ist es nicht verwunderlich, dass die ersten Zeitzeugen, die für diese Idee gewonnen wurden, keine alteingesessenen Norderstedter waren, sondern aus Argentinien, aus Bochum-Langendreer, aus Offenbach und den ehemals deutschen Gebieten Warthegau, Ostpreußen und Schlesien stammten. Von Flucht, Vertreibung und Migration konnten sie berichten, von den Auswirkungen der beiden Weltkriege, die Historiker heute bereits den Zweiten Dreißigjährigen Krieg, einen Weltbürgerkrieg nennen.

Viele dieser Zeitzeugenberichte sind nicht nur im Internet nachzulesen, sondern auch in gedruckter Form. 2014 erschien im Kadera-Verlag unser Erstlingswerk, mit dem Titel Dennoch haben wir gelacht …Dennoch haben wir gelachtJetzt hier bei uns bestellen …, Kindheit und Jugend 1933 bis 1955. Das Buch macht deutlich, wie unterschiedlich der Krieg von der Bevölkerung erlebt wurde. Regnete es in den Städten Bomben, war auf dem Lande davon erst einmal wenig zu spüren. Für viele wurden die Lebensumstände erst nach dem Krieg katastrophal, in den Jahren von Kriegsende 1945 bis zur Währungsreform. Viele Menschen hausten in den Ruinen, Nissenhütten und Behelfsheimen, erlebten Hunger, Kälte und Wohnungslosigkeit. Davon handelt unser zweites Buch, Schwarzbrot mit ZuckerSchwarzbrot mit ZuckerJetzt hier bei uns bestellen …, das 2018 herausgegeben wurde. Das dritte und bisher jüngste Buch der , mit dem Titel KriegskinderKriegskinderJetzt hier bei uns bestellen …, erschien im Dezember 2019 und fand, bedingt durch die beginnende Covid19-Pandemie leider nur geringe Beachtung.

Doch am 2. November 2022 wird das Kind 18 Jahre alt und somit volljährig. Nur einer der Gründungsväter ist im Projekt verblieben, trotzdem hat es sich beachtlich weiterentwickelt. Die redaktionellen Aufgaben werden heute von einem fünfköpfigen Team mit großem Ernst und Freude wahrgenommen. Insgesamt haben sich 87 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entschlossen, ihre ganz privaten Aufzeichnungen nicht nur ihren Kindern und Enkeln zum Lesen zu geben, sondern auch den vielen ungekannten Internetnutzern. Manche Beiträge erhielten wir erst nach ihrem Tod durch deren Angehörige, da die Betreffenden zu Lebzeiten nicht darüber reden konnten und die Erlebnisse nur schriftlich festgehalten haben.

Durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine steigen jetzt bei vielen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt hatten, böse Erinnerungen auf. Es zeigt sich dabei, wie wichtig es ist, diese Erinnerungen mit den Jüngeren zu teilen, um zu verdeutlichen, dass Demokratie, Frieden und Freiheit nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder neu erstritten und verteidigt werden müssen.

Vor zwei Jahren, am 20. September 2020 haben wir dann unser Projekt einer Jury vorgestellt und uns beim Wettbewerb Aktiv für Demokratie und Toleranz der Bundesanstalt für politische Bildung – Bündnis für Toleranz und Demokratie, mit einer zehnseitigen Beschreibung der Initiative angemeldet. Seit dem 24. November 2020 gehört die als vorbildlich eingestuftes Projekt zu den PreisträgernLesen Sie den Bericht des Hamburger Abendblatts. Was für ein schöner Erfolg für alle Mitwirkenden.

Doch bei all den positiven Aspekten bleibt ein schaler Beigeschmack. Wie lange kann die noch existieren? In der heutigen Zeit, in der sich einiges zu wiederholen scheint, ist es noch wichtiger geworden, den Generationen, die selbst noch keinen Krieg erlebt haben, aus persönlichem Erleben zu schildern, was Krieg wirklich bedeutet. Leider werden Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts naturgemäß immer weniger und die Demagogen scheinbar immer mehr. Deshalb hoffen wir, dass unsere Beiträge gelesen werden und mancher, der Aufzeichnungen für Enkel und Kinder gemacht hat, unsere Autorenplattform für die Veröffentlichung nutzt.

Melden Sie sich bei uns, das wäre ein schönes Geschenk zum Geburtstag der .

Hartmut Kennhöfer, 2. November 2022