1Mai2020

Würde, Freiheit, Gleichheit vs. Corona

Margot Bintig

Um unsere Verfassung, unser Grundgesetz, beneiden uns viele Länder. Die wichtigsten Werte sind in den Artikeln 1 bis 3, Würde, Freiheit, Gleichheit, festgeschrieben. Alle nachfolgenden Artikel basieren auf diesen drei Grundwerten und auch alle Gesetze, die beschlossen werden, müssen sich an diesen Grundwerten orientieren.

Leider sagt das Grundgesetz nichts Genaues über den Umgang mit Epidemien aus. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie wurden sehr viele Grundrechte außer Kraft gesetzt. Der Staat darf, legitimiert durch das Infektionsschutzgesetz, in die Grundrechte der Bürger eingreifen – aber nicht alles, was vorstellbar ist, oder sinnvoll erscheint, ist auch rechtmäßig. In allen Fällen gilt, dass die Staatsorgane streng an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden sind. Die Eingriffe in die Grundrechte müssen zeitlich begrenzt sein. Das ist unabdingbar.

Vieles war sicherlich richtig, um die Epidemie einzudämmen, manches aber fand ich überzogen und sinnlos:

  • Warum durfte sich in Bayern jemand nicht allein auf eine Parkbank setzen, um ein Buch zu lesen?

  • Warum durfte ein Hamburger die Stadt- und Landesgrenze nach Schleswig-Holstein nicht zu Fuß oder mit dem Rad passieren? Kleingeister fühlten sich jetzt legitimiert, sich durch Denunziation bei der Polizei, Fleißsternchen zu verdienen.

  • Warum sind Baumärkte geöffnet, Kirchen und Museen, die außerhalb besonderer Festtage oder Ausstellungen ohnehin nicht überlaufen sind, bleiben geschlossen?

  • Warum wird darüber diskutiert, ob die kapitalstarke Bundesliga, mit ihren angestellten Fußball-Millionären, diesen körperbetonten Mannschaftssport schon jetzt  ausüben darf, während es anderen Mannschaftssportarten und den kleinen Vereinen ohne großes Finanzpolster weiterhin verboten ist? Kinder, die auch gern auf dem Fußballplatz bolzen würden und nicht dürfen, bekommen nun einen Anschauungsunterricht darüber, dass nicht der von ihnen geliebte Sport, sondern nur maximales Profitstreben zählt.

  • Seit einiger Zeit merke ich, dass unter der Oberfläche ein Stimmungsumschwung wabert, über den man zuerst nicht laut sprechen wollte. Nun werden die Stimmen auch in den seriösen Medien immer lauter und es wird von immer mehr einflussreichen  Personen gesagt, was eigentlich unaussprechlich und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist: Menschenleben gegeneinander aufwägen, Jung gegen Alt aufrechnen und in Systemrelevante und Risikogruppe aufspalten.

2009 gab es eine große Debatte um den Abschuss von Passagierflugzeugen bei terroristischer Geiselnahme. Das Bundesverfassungsgericht hat damals eindeutig geurteilt: Keine Abwägung Leben gegen Leben. Begründung des Urteils: Eine Abwägung Leben gegen Leben ist mit der Menschenwürde unvereinbar, so die Richter. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Nachfolgende Zeitungsmeldungen wären damals nicht möglich gewesen. Doch Corona weicht langsam alles auf.
Schon fragt manch einer: Ist es richtig, die Rücksicht auf Alte und Verletzliche zur obersten Priorität unserer Corona-Strategie zu machen? Ist es nicht naiver Glaube an den Wohlfahrtsstaat, wenn wir meinen, wir könnten enorme Beträge für die Alten ausgeben, die ökonomisch unproduktiv sind? (Übersetzung aus einer dänischen Tageszeitung in der TAZ)
Die Verfassungsrechtlerin Lübbe-Wolff hält Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen für möglich, die sich mehr auf die Älteren konzentrieren. Das scheint mir auf den ersten Blick das Vernünftigste. (Handelsblatt)

Der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Wolfgang Greiner hat eine Ausgangssperre für Ältere ins Spiel gebracht. Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte er, denkbar wäre eine Ausgangssperre für Personen über 70 Jahre, verbunden mit sozialer Unterstützung für die Betroffenen. Nötig seien umfassende Maßnahmen, um diese Bevölkerungsgruppe isolieren zu können, während sich das öffentliche Leben wieder schrittweise normalisiert.(FAZ)
Die Alten isolieren, damit der Alltag aller Übrigen wieder anlaufen kann wie eine Dampflok? Es sind nicht wenige, die genau das fordern:
Die Gesellschaft solle Menschen über 65 Jahre aus dem Alltag herausnehmen, sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). Man solle die Risikogruppe der Älteren isolieren, sagt auch sein Düsseldorfer Amtskollege Thomas Geisel (SPD). Entsprechend solle der Shutdown für die – Palmers Meinung zufolge virusresisenteren – Jüngeren bald aufgehoben, die gefährdeten Risikogruppen Alte und Vorerkrankte hingegen verstärkt ins Visier genommen und konsequenten Isoliermaßnahmen unterworfen werden. (RND Redaktionsnetzwerk Deutschland)

Herausnehmen! Isolieren! Ins Visier nehmen! Konsequent Maßnahmen unterworfen werden! - Achtet auf die Sprache!

Die Türkei ist schon weiter und hat diesen Weg bereits beschritten. Das türkische Innenministerium verhängte eine Ausgangssperre für Menschen, die über 65 Jahre alt sind und für jene, die an einer chronischen Krankheit leiden. Und jetzt sagte auch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 26. April 2020:
Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen; das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gäbe, dann ist das die Würde des Menschen. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen. (Interview mit dem Tagesspiegel)
Damit sagt er eine Binsenwahrheit, natürlich sterben Menschen. Alle! Früher oder später. Aber wo bleibt die Würde, wenn andere über die Zeit vor meinem Lebensende entscheiden?

Ich möchte bis zum letzten Tag die Freiheit haben zu entscheiden, wie und wo ich bis dahin leben will, ob ich beschützt werden möchte oder ob ich mich bewusst einem Risiko aussetze, um dadurch besser, und ohne bevormundet zu werden, leben zu können. Ich möchte auch nicht vorzeitig sterben müssen, weil aus ökonomischen Gründen meine Behandlung nicht gerechtfertigt erscheint.

Natürlich können wir Ältere uns überlegen, ob wir mehr zu Hause bleiben und in unserer Patientenverfügung den Zusatz einbringen, dass wir im Ernstfall nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden wollen. Das ist bei schweren Vorerkrankungen vielleicht sogar sinnvoll, da bekannt ist, dass es auch nach einer künstlichen Beatmung zu schweren Folgeschäden kommen kann. Wir könnten dann einer jüngeren Person ein Weiterleben ermöglichen, und auch den Ärzten wäre geholfen, sie müssten keine Triage durchführen.

Das alles will ich aber verdammt-noch-mal selbst entscheiden!

Hier noch ein Zitat des Führers aus den 1930er Jahren, bei dem man heute eine Gänsehaut bekommt, oder bekommen sollte:
Durch unsere moderne Humanitätsduselei bemühen wir uns, das Schwache auf Kosten des Gesünderen zu bewahren.
Adolf Hitler ((Rede auf dem NSDAP-Parteitag in Nürnberg am 4.8.1929)
Die daraus resultierenden Folgen, Stichwort Euthanasie, sind hoffentlich allen bekannt. Falls nicht, bietet die Erinnerungswerkstatt jede Menge Zeitzeugenberichte aus der dunkelsten Episode deutscher Geschichte, dem Dritten Reich.

Margot Bintig, 1. Mai 2020