30März2012

Frühlingsgefühle

Günter Matiba

Können Sie sich noch erinnern, in welchem Lebensjahr Sie das erste Mal den Frühling bewusst wahrgenommen haben? Ich habe als Kind von Augenblick zu Augenblick gelebt, die Jahreszeit spielte keine Rolle, sie war unwichtig.
Meine Umwelt in der Kriegs- und Nachkriegszeit hatte inmitten von Ruinen und hungrigen Menschen kaum ein Plätzchen für Frühlingsgefühle. Der Blick für die Auferstehung” der Natur in aller ihrer Schönheit aus dem tristen Winterschlaf wurde mir erst - dann aber schlagartig - geschärft, als ich schon etwa 18 Jahre alt war und im Schulunterricht ein Frühlingsgedicht durchgenommen wurde.
Von da an ließ mich die Faszination, wie innerhalb eines Monats aus nackter Erde mit ein paar verdorrten, unansehnlichen Pflanzenresten ein blühender Garten entsteht, nicht mehr los. Wie stumme Vögeln auf einmal einen vielstimmigen, wohltönenden Chor bilden, wie die strahlende Sonne lange scheint und wärmt und, und, und. Selbstverständlich können wir das alles mit dem Verstand naturwissenschaftlich erklären, unser Herz wird dennoch unwiderstehlich berührt und erfreut. Mein Gefühl für den Frühling wird mit zunehmendem Alter immer ausgeprägter, wahrscheinlich weil ich mit Sicherheit nicht noch einmal 79 Frühlinge” erleben werde.

Normalerweise berichten wir auf dieser ersten Seite über etwas Aktuelles, was unmittelbar mit unserer Erinnerungswerkstatt zu tun hat. Aber Hand aufs Herz, gibt es jetzt etwas Aktuelleres als draußen dieses blühende, jubilierende Leben? Ehrlich, mir fehlen die Worte dafür, aber wofür haben wir denn unsere Dichter? Über Jahrhun­derte haben sie mit den schönsten und treffends­ten Worten dieses einzigartige Phänomen auf un­serem Planeten Erde beschrieben und besungen. Nach diesem Winter, der ausnahmsweise einer war, darf ich mit Goethe jauchzen: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche.... Aber es gibt ja noch viele andere Frühlingsgedichte. Nicht nur Goethe, Schiller oder Mörike – um nur einige der be­kanntesten Poeten zu nennen - haben wunderbare Verse geschmiedet. Lassen wir z. B. mal den ziemlich unbekannten Max Dauthenday sprechen:

Die Amseln haben Sonne getrunken,
Aus allen Gärten strahlen die Lieder,
In allen Herzen nisten die Amseln,
Und alle Herzen werden zu Gärten
Und blühen wieder.

Nun wachsen der Erde die großen Flügel
Und allen Träumen neues Gefieder,
Alle Menschen werden wie Vögel
Und bauen Nester im Blauen.

Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge
Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne,
In allen Seelen badet die Sonne,
Alle Wasser stehen in Flammen,
Frühling bringt Wasser und Feuer
Liebend zusammen.

Der unvergessene Heinz Erhardt, ein Meister der Schelmengedichte, sah den Frühling in seinem Ostergedicht ganz anders, nämlich so:

Wer ahnte, dass zum Weihnachtsfest
Cornelia mich sitzenlässt?
Das war noch nichts: zu Ostern jetzt
hat sie mich abermals versetzt!
Nun freu ich mich auf Pfingsten –
nicht im geringsten!

Günter Matiba, 30. März 2012