18Juni2003

Die Kräfte der Erinnerung…
Denkmäler und kollektives Gedächtnis

Kurt Jürgen Voigt

Denkmäler, Mahnmale, Erinnerungszeichen wurden und werden bekritzelt, umgeworfen, zerstört, geschändet, eliminiert – wenn das Erinnern, das sie repräsentieren, nicht mehr opportun, nicht mehr bewahrenswert erscheint, weil sich die gesellschaftliche oder politische Zeitorientierung verändert hat. Die Denkmale Echnatons im frühen Ägypten wurden von den Nachfolgern zerstört – wie jene Stalins oder des irakischen Diktators. Der Kubus zur Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Hamburg wurde von frevelnder Hand mit Farbe bekleckst. Unter das Phänomen Mahnmal fallen historische Fahrzeuge, die man verbrennen kann, wie den Eisenbahnwagen in Compiègne. Es fallen Bücher darunter, die man verbrennen kann, weil ihre Autoren das Falsche predigen, wie 1933 -

Denkmäler, Mahnmale, Erinnerungszeichen wurden und werden neu errichtet zum Gedächtnis an einen Sieg. Zum Beispiel von Okinawa im Zweiten Weltkrieg, an ein schmerzliches Ereignis, wie Willy Brandt in Warschau. Gesellschaften und Nationen benötigen offenbar Signale und Metaphern, die ihnen helfen, sich an Ereignisse der Vergangenheit zu erinnern, die wichtig waren oder sind – für den Bestand, die Identität, das Selbstverständnis einer Gruppe oder Nation. Das Brandenburger Tor aus Wilhelminischer Zeit blieb erhalten und wird gepflegt, wie die Siegessäule. Das Berliner Schloss wird rekonstruiert. Wir sahen moderne Entwürfe für den Platz des World Trade Centers, wir erlebten die Diskussionen um das Holocaust-Denkmal in Berlin.

Ist das kollektive Gedächtnis so schwach, so beeinflussbar, dass es Ereignisse oder heroische Taten oder Personen ohne Mahnmal oder Merkdaten (9. November) in einer oder zwei Generationen vergisst? Und ist mit dem Vergessen auch ein Identitätsverlust verbunden? Ein Verlust an Traditionen, die für die Gesellschaft wertvoll, lebenswichtig sind?

Auch Erzählungen, Lieder, Balladen können Mahnmale sein und dabei helfen, Gelebtes, Erlerntes, Erlittenes zu tradieren. Die Geschichte vom Kyffhäuser gehört dazu, wie jene von König Artus. man erinnert sich an Aufstände in Ost-Berlin, in Ungarn und Prag, an die Studentenrevolte in Paris 1968. Da sind die Erinnerungsmärsche in Irland, die Balladen über Great FamineLesen Sie auch:
Die traurige Geschichte des Mr. Nowlan von Kurt Jürgen Voigt, über die große Hungersnot im Irland des 19. Jahrhunderts.
zwischen 1845 und 1852. Wenn einander widersprechende Traditionen aufeinandertreffen, wie bei den Märschen in Irland, führt es oft zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Traditionen und Glaubensrichtungen, zu Vorurteilen und Verdrängungen. In den Diskussionen um die Erinnerungen der Sudetendeutschen, da junge Menschen die Vertreibung nur aus Erzählungen kennen. Wird hier eigene Gruppenschuld verdrängt, die Schuld des Gegners aber vergrößert? Haben die Deutschen als Ganzes ihre Verbrechen in der NS-Zeit verdrängt, vergessen, wie ihnen vielfach vorgeworfen wurde? Immer auch am 20. Juli? Zum Tag der Wiedervereinigung werden Reden gehalten, ein allgemein akzeptiertes Denkmal existiert hingegen nicht. Und was geschieht in der Seele des Großvaters, dessen Gedächtnis jede Einzelheit der Schlacht um Stalingrad bewahrte, weil er als Zeitzeuge und Handelnder dabei war, der aber nicht mehr weiß, was vorige Woche los war im Dorf? Die moderne Alternsforschung befasst sich auch mit den Problemen des Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisses einer Generation, die noch manches beitragen könnte zum kollektiven Gedächtnis der Deutschen, bald aber wird auch der letzte Zeitzeuge gestorben sein. Was bleibt, sind Bücher, Lieder, Balladen und alte Filme, gehütet in Archiven.

Ethnologen, Anthropologen und Mythenforscher berichten, dass Alt- und Stammesvölker ihren geschichtsstarken Erzählern gebannt zuhörten, wenn sie mit Gesten und Zeichen die lebenswichtigen Erinnerungen des Stammes, der keine schriftlichen Quellen kennt, mündlich weitergeben: Mythen (Erzählungen) vom Werden des Volkes, seiner Gottheiten und Ahnen, vom Werden der ersten Könige wie bei den Ashantis. Mündlich tradiert werden die Kosmogonien und die Berichte über die Weltenachse, über das Weltenei und den Weltenbaum. Die Traumzeit der Aborigines ist seit langem Gegenstand intensiver Forschung. Der Stamm der Hopi versucht seine mythischen Erzählungen wieder zu beleben. Rituale helfen, an das Geschehen der Vergangenheit zu erinnern, indem sie Vergangenes heraufbeschwören. Jugendliche werden in Initiationsriten mit den Erinnerungen ihres Volkes vertraut gemacht. Ein geschriebener, aber nicht allgemein bekannter Mythos wurde auch in der Präambel des deutschen Grundgesetzes gesehen mit seiner Erinnerung an die Notwendigkeit der Wiedervereinigung.

Mahnmale, Balladen, Geschichten, Mythen, Rituale – sie alle sind Medien, die dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, die ankämpfen gegen das Vergessen und Verschwinden von wichtigen Ereignissen in den Kellern der Archive. Wer würde sich heute an den fernen deutsch-französischen Krieg, an die Schlacht bei Sedan, erinnern, stünde nicht in jedem Dorf ein Denkmal für die Gefallenen? Hier ist zu bemerken, dass Denkmale nicht für die Zeit stehen, an die sie gemahnen, sondern an die Epoche, in der sie errichtet wurden.

Wie geht die junge Generation in Industriestaaten mit Mahnmalen und Gedächtnistagen oder –orten um? Abertausende treffen sich zum Gedächtnis der Ikone Elvis in Graceland. Aber die anderen Mythen und Traditionen ihrer Gesellschaft – sind sie ihnen wichtig? Werden sie im Unterricht mit den Gesetzen und Problemen der Tradierung vertraut gemacht? Sender bringen regelmäßige und oft aufwändig produzierte Dokumentationen über die Ereignisse der letzten hundert Jahre, etwa den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Können die jungen Generationen helfen bei der Bewusstmachung der langen Prozesse, die in einem Volk zu Traditionen, zu Mythen und Legenden führen und damit zu einer Identität? Auch die Beschäftigung mit der Frage: Was ist erinnernswert. Was nicht? Oder sind am Ende alle Mahnmäler und Gedächtnishilfen überflüssiger Schrott der Geschichte – und Völker, Nationen könnten durchaus auch leben ohne ihre Gedächtnisse? Das wäre zur Diskussion zu stellen.

Kurt Jürgen Voigt, Hamburg 2003