21März2008

Erinnern Sie sich immer richtig?

Fritz Schukat

Natürlich, werden Sie sagen. Aber so natürlich ist das leider nicht. Da hat sich vor einiger Zeit eine hochkarätige Forschungsgruppe im Westen unserer Republik formiert, die dieses Thema aufgegriffen hat und wollte untersuchen, …wieso erinnern sich die Menschen?
Viel Neues erfährt man da eigentlich nicht, denn die kürzlich veröffentlichten Forschungsergebnisse bekräftigen nur das, was wir schon längst wissen: Jeder erinnert sich anders.
Natürlich sind die Einzelergebnisse schon interessant, denn Forscher gehen solche Dinge ganz anders an. Sie analysieren nicht nur Fragebögen, in denen sie schlaue Fragen stellten, sie versuchen auch, die Hirntätigkeit mit komplizierten Geräten zu untersuchen. Sie können mit ihren Wundergeräten sogar die Hirnregionen lokalisieren, wo Erinnerungen abgespeichert werden und ziehen dann daraus ihre Schlüsse.
Interessant ist das Ergebnis, das als erstes genannt wurde, denn es befasst sich mit dem frühesten Erinnerungspotential. Das autobiografische Gedächtnis entsteht erst nach den ersten drei Lebensjahren - …davor fallen alle Erlebnisse der so genannten kindlichen Amnesie zum Opfer. Hier bekommen endlich einmal die Verfechter der Realos eine wissenschaftliche Unterstützung, die schon immer behaupteten, man könne sich an noch frühere Kindheitserlebnisse nicht erinnern - alles andere wäre Nachgeplabbere. Es wäre sogar noch wünschenswert gewesen, nach Geschlechtern zu unterscheiden. Da meine ich, dass dies zugunsten der Mädchen auslaufen müsste.
Wenn ältere Männer behaupten, sie können sich sogar minutiös an Ereignisse erinnern, als sie noch nicht drei Jahre alt waren, bekomme ich immer son Hals! und behaupte weiterhin, dass dies nicht nur unwahrscheinlich ist, sondern schlichtweg eingebildet.
Je älter der sich erinnernde Mensch wird, so eine weitere These, umso abgeklärter wird seine Erinnerung an die frühesten Erlebnisse, das Gehirn verarbeitet diese schließlich sogar wie Faktenwissen, daher verändern sich die inzwischen zurecht gelegten Folgeabläufe nicht mehr und es wird schwierig, Fehler in diesem Erinnerungsbild nachträglich durch echte Fakten zu berichtigen.
Je weiter die Erinnerung in der Vergangenheit liegt, desto mehr distanziere man sich von ihr auf der emotionalen Ebene. Erinnerungen verändern sich mit jedem Abruf, meint einer der Forscher, aber das ist nach unseren Erfahrungen durchaus nicht immer so. Wir jedenfalls haben autobiografische Berichte von Gruppenmitgliedern gehört, die beim Vorlesen ihrer eigenen Geschichte nicht nur ins Stocken kamen sondern sogar darum baten, ein anderer möge das Manuskript weiter vorlesen, weil die Autoren durch ihre Emotionen übermannt wurden. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich dies wiederholen würde, wenn sie diese Geschichten an anderer Stelle nochmals vortragen würden.

Was hier allerdings mit großer Genugtuung nachvollzogen werden kann, ist die Behauptung, dass man von seinem eigenen Gedächtnis auch gefoppt werden kann. Unter der Überschrift: Illusionen des Gedächtnisses sind durchaus normal behauptet eine US-amerikanische Studie, jeder vierte Erwachsene habe falsche Erinnerungen aus seiner Kindheit erfunden. Je schlechter das Gedächtnis sei, desto größer sei auch das Risiko, sich vergangene Erlebnisse einzubilden.
Auch das könnten wir empirisch belegen. Bei der Vielzahl der von hier bereits redigierten Geschichten kamen immer wieder einmal seltsame Behauptungen zu Fall, davon ist niemand ausgenommen.

Eine kleine Liste mag das belegen:

  • In meiner Geschichte von der EvakuierungLesen Sie:
    Evakuierung und Kriegsende
    habe ich geschrieben, die russischen Panzerspitzen hätten unseren Aufenthaltsort in der Neumark (Muschten) bereits am 15. Januar 1945 überrannt. So habe ich es 1979 aufgeschrieben und 2001 kritiklos übernommen. Vor kurzem wurde ich darauf hingewiesen, dass die russische Invasion von der Weichsel aus erst am 12. Januar 1945 begann. Es kann dennoch durchaus sein, dass sie schon am 15. Januar in der Gegend vor Schwiebus waren, aber heute würde ich dieses Datum nicht mehr so genau festklopfen.

  • Mein Cousin schickte mir ein Bild, auf dem angeblich meine Mutter, seine Patin abgebildet sei. Sie ist es effektiv nicht, und tatsächlich kennt niemand aus der (restlichen) Familie mehr diese Frau. Außerdem schickt er mir Bilder von einer Fahrradtour, die ich mit ihm durch Bayern machte. Ich habe diese Fahrt völlig vergessen! Keine einzige Erinnerung an diesen Urlaub ist in meinem Kopf - auch jetzt nicht, nachdem ich die Bilder gesehen habe!

  • Ein Pensionär behauptet behauptet, im Winter 1944/45 sei seine Schule von einer Delegation mehrerer Junglehrer unter der Leitung des zuständigen Kreisschulrates in XY-Stadt gewesen und habe merkwürdige Rechenaufgaben lösen lassen. Das ödete ihn an, denn …dergleichen Klötzchenrechnerei benötigte er angeblich nicht, wenn er die Salden in den Geschäftsbüchern seiner Mutter hinauf- und herunterrechnete. (Vor dem Kriegsende am 08.05.1945? Da waren doch noch alle jungen Männer an der Front!)
    Eine Autorin verlegte die verheerende 1962er Sturmflut von Hamburg einfach eine Woche vor und behauptete, auch die Ortschaft Schwarmstedt (in der Lüneburger Heide, die Red.) hätte unter den Fluten gelitten. Dann wurde die Ostseeküste genannte und die Flüsse Leine und Aller. Das waren keine Flüchtigkeitsfehler, das war reine Fabuliererei.

  • Eine Autorin behauptete, die Kinderlandverschickung wäre …von Adolf Hitler 1941 eingeführt worden. Tatsächlich gibt es die Kinderlandverschickung schon vor dem Ersten Weltkrieg, von einem anderen hörten wir, er wäre fast ein Jahr in der KLV gewesen. (Fast alle, die längere Zeit in der KLV waren, schwärmen heute noch von dieser Einrichtung und bezweifeln jegliche nationalsozialistische Beeinflussung der Teilnehmer) Eine Autorin hat sich 1942 nach einem Luftangriff mit schlimmsten Folgen bei Löscharbeiten auf ein röhrenartiges Ding gesetzt, um sich auszuruhen, sie habe angeblich nicht gemerkt, dass es eine Zeitbombe war. Als sie 50 m von diesem Ding entfernt war, explodierte es. (Das ist reiner Sensationismus, Röhren lagen nicht auf Straßen herum, so etwas hätte selbst ein kleines Kind als Bombe erkannt.) Eine Autorin beschreibt eine Fülle von Einzelepisoden, die zusammengefasst durchaus ein Jahr lang gedauert haben könnten. Es wurde als Endzeitpunkt Herbst 1946 genannt, tatsächlich war es aber Sommer 1945.

  • Die Todesanzeige für einen Bekannten schrieb seine Frau per Hand. In jeder Anzeige steht, der liebe Mann sei im 69. Lebensjahr verstorben. Tatsächlich hatte er drei Monate zuvor erst seinen 67. Geburtstag gefeiert! Das Paar war über 30 Jahre zusammen! (Sie selbst war sieben Jahre älter, lag es daran?)
    Eine Dame behauptete, am ersten Ostertag 1949, das sei der 14. April gewesen, eingesegnet worden zu sein. Einsegnungssonntag war in der Regel Palmsonntag, eine Woche vor Ostern. Aber auch wenn in Ausnahmefällen Ostersonntag noch eingesegnet wurde, der 14. April 1949 war jedenfalls ein Donnerstag!

  • Eine Autorin schilderte ihre Flucht aus der Ostzone so, dass man glauben kann, nach einer Stunde wär alles vorbei gewesen. Dabei liegen über 115 km zwischen ihrem Wohnort in der SBZ und der Stelle, an der sie mit Freunden einen kleinen Fluss überquerte und im Westen ankam. Sie kann nicht mehr erinnern, was während der Fahrt vom letzten Wohnort bis zum Überschreiten eines kleinen Flusses alles geschah und wundert sich heute, dass diese Strecke angeblich über 100 km betrug - ein ganzer Tag ist aus der Erinnerung verschwunden - der damals 14Jährigen!

Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden.

Fritz Schukat, Lentföhrden im März 2008