10Jan2021

Vorbildliches Projekt

Ausgezeichnet …
die Erinnerungswerkstatt Norderstedt

Von Heike Linde-Lembke

Hamburger AbendblattHamburgerAbendblatt (Online-Version) vom 9. Januar 2021: Die Macher der Norderstedter Erinnerungswerkstatt: Hartmut Kennhöfer (72, von links), Michael Malsch (75), Bernd Herzog (80), Margot Bintig (74) und Pia Wolters (65). Foto: Heike Linde-Lembke

Zeitzeugenprojekt erhielt vom Berliner Bündnis für Demokratie und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt den Demokratie- und Toleranz-Preis

Norderstedt. Wie werden wir uns in ein paar Jahren an die Corona-Pandemie mit ihren Auswirkungen auf jeden von uns erinnern, an den Sieg Joe Bidens über Donald Trump, an die kleinen Katastrophen und auch an große Freuden? Das treibt die Norderstedter Erinnerungswerkstatt schon jetzt um. Tagebücher werden geführt, Notizen gesammelt, damit man künftig genau weiß, was wann gewesen ist.

Mehr noch aber beschäftigen sich die fast 80 Mitglieder um den Redaktionskern mit Hartmut Kennhöfer (72), Margot Bintig (74), Bernd Herzog (80), Michael Malsch (75) und Pia Wolters (65) damit, die Schätze der Vergangenheit zu sammeln, Zeitzeugen zu treffen und zu interviewen: Wie war das damals in der dunklen Zeit?, Wie hast du die NS-Diktatur erlebt und überlebt?, Was ist aus den Mädchen mit den blonden Zöpfen, was auch dem Jungen in kurzen Hosen und mit noch kürzerem Haarschnitt geworden?, Und wie hast du die Nachkriegszeit und die rebellischen 60er-Jahre erlebt? Das große Problem: Es gibt immer weniger Zeitzeugen - vor allem solche, die über die NS-Zeit berichten können.

Eine öffentliche Feier ist im ersten Halbjahr 2021 geplant

Urkunde PreisverleihungUrkunde Preisverleihung
Preisträger Bündnis für Demokratie und Toleranz

Für ihre Sisyphusarbeit am Zeitzeugenprojekt Norderstedter Erinnerungswerkstatt zeichnete das Bündnis für DemokratieSie verlassen die Erinnerungswerkstatt und öffnen die Seite des BfDT und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt in Berlin den Arbeitskreis jetzt mit dem Preis des Wettbewerbs Aktiv für Demokratie und Toleranz 2020 aus, lobte die Initiative als vorbildlich und dotierte dieses Lob mit 2000 Euro. Verbunden ist die Auszeichnung mit einer öffentlichen Feier im ersten Halbjahr 2021 und einem zweitägigen Workshop im September, in dem inhaltliche und methodische lmpulse vermittelt werden und sich die Teilnehmerschaft miteinander vernetzen kann.

Wir freuen uns sehr über den Preis, denn er bestätigt unsere jahrzehntelange Arbeit, sagt Hartmut Kennhöfer, bei dem die Fäden der Arbeit der Mitglieder zusammenlaufen. Zudem organisiert und schreibt er den Internet-Auftritt der Erinnerungswerkstatt. Alles ehrenamtlich. Die jüngere Geschichte fand bei uns in der Schule nicht statt, sagt der Mann, der 1948 geboren wurde, drei Jahre nach Ende des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs. Mit jüngerer Geschichte meint er die deutsche Geschichte seit 1933, als die Nazis die Macht in Deutschland an sich rissen.

In der Schule und zu Hause wurde über vieles geschwiegen

Als sein Vater 2005 starb, entdeckte er dessen Kriegstagebuch und Fotos. Sein Vater war Funker auf dem U-Boot 466Lesen Sie:
Der U-Boot Krieg, mit U-466 auf Feindfahrt
. Das weckte mein Interesse, und ich wollte mehr wissen, sagt Kennhöfer, dessen Familie aus OstpreußenLesen Sie:
Unsere Flucht aus Ostpreußen, oder:
wie wir unsere Heimat verloren
nach Schleswig-Holstein floh. Doch nicht nur in der Schule wurde über den NS-Terror geschwiegen, auch im Elternhaus. Immer, wenn ich nach dem Dritten Reich fragte, wurde ich abgewiesen. Wenn sie aber unter sich darüber sprachen, hörte sich das an wie ein Betriebsausflug, das stachelte mich auf, sagt Kennhöfer.

Die Erinnerungswerkstatt gründete er mit Fritz Schukat bereits im November 2004: Wir haben in Norderstedt eine Zeitzeugengruppe installiert, um Menschen zu treffen, die die NS-Zeit erlebt haben, wir befragen sie, um diese Berichte für die nächsten Generationen zu bewahren, sagt Kennhöfer, der auch im PC-Café mitarbeitet.

Aber die Erinnerungswerkstatt will nicht nur die Vergangenheit für die Zukunft in Berichten sichern, sie will vor allem, dass sich Rassenhass und Rechtsradikalismus nicht wiederholen. Wie recht wir damit haben, zeigt sich heute bei den vielen Attentaten auf jüdische Einrichtungen, sagt Margot Bintig. Die 74-Jährige aus Offenbach lebt seit 42 Jahren in Norderstedt, nimmt seit 2004 an der Erinnerungswerkstatt teil und fürchtet durchaus eine Wiederholung der Geschichte: Das Schlechte im Menschen kommt wieder zum Vorschein.

Mitglieder der Erinnerungswerkstatt treffen sich beim DRK

Über einzelne Schicksale schreibt Bernd Herzog. Der 80-Jährige ist seit acht Jahren Mitglied der Erinnerungswerkstatt und hat erst einmal Schreibkurse belegt. Zuerst wollte ich nur meine eigene Geschichte schreiben, jetzt schreibe ich auch die anderer Leute auf. Im September hat der Schiffsmaschinenbauer und Seemann sein erstes Buch Ein Hamburger JungVerlag: BoD – 2020
Sprache: Deutsch
Geb. Ausg.: 184 Seiten
ISBN-10: 3751994300
ISBN-13: 978-3751994309
Abm.: 15.6x1.8x21.7 cm
Geb. Buch: 18,- €
Kindle-Edition: 7,99 €
– Vom Elbestrand bis Valparaiso
bei Books on Demand veröffentlicht.

2014 ist Michael Malsch zur Werkstatt gekommen, weil er die Erinnerungen seines Vaters und auch seines Urgroßvaters über die Weimarer Republik und das Tausendjährige Reich über die Werkstatt-Homepage ewnor.deLesen Sie auch:
Biografie des Johannes Dittrich, 1852 - 1925
öffentlich machen wollte. Auch seine eigene Geschichte ist vielfältig. Sein Vater war Propst an der evangelischen Erlöserkirche in der Altstadt von Jerusalem. Dort lebte er von 1960 bis 1965, ging auf die englische Schule und besuchte dann die evangelische Oberschule in KairoLesen Sie von diesem Autor:
Kairo 1961-1966
. Michael Malsch singt auch im Kodály-ChorSie verlassen die Erinnerungswerkstatt und öffnen die Homepage des Chores in einem neuen Tab., traf dort Pia Wolter und erzählte ihr von der Erinnerungswerkstatt. Ich finde das spannend und schreibe gerade über die Fluchtgeschichte unserer Familie aus Ostpreußen, sagt die 65-jährige Juristin.

Vom ersten Tag an ist die Erinnerungswerkstatt, die auch Teil der lernenden Netzwerke und deren Nachfolgerin Lernverbund Norderstedt war, Gast in den Räumen des Deutschen Roten Kreuzes in Norderstedt.

Kern der Erinnerungswerkstatt aber ist die Website, auf der alle Zeitzeugenberichte von der Redaktion gesammelt, eingeordnet und so zum kostenlosen Nachlesen zur Verfügung stehen – ein Archiv der jüngeren Vergangenheit. Zurzeit stehen 1667 Zeitzeugenberichte in dem Online-Lesebuch – für alle kostenlos zugänglich. Aus den Berichten wird erkennbar, wie aus einer Demokratie, der Weimarer Republik, durch Verschwörungstheorien, Lügen und Terror, Dummheit und Ignoranz einer Diktatur und dem Faschismus der Weg geebnet wurde, sagt Hartmut Kennhöfer. Mit Margot Bintig hat er auch die Zeitleiste Geschichte in Zeittafeln über die Machtergreifung Hitlers auf der Website erarbeitet. Durch das junge Medium Internet hoffen wir, gerade junge Menschen zu erreichen, sagt Margot Bintig. Andererseits wollen sie den Zeitzeugen Raum bieten, Erinnerungen auszutauschen und aufzuschreiben. Wir sind die letzten Zeitzeugen einer Diktatur, sagt Bernd Herzog.

Als erstes Nebenprodukt entstand noch ein Lexikon der aussterbenden Wörter und Begriffe mit mittlerweile 1882 Stichwörtern; als zweites wollen sie Menschen mit Migrationshintergrund ermöglichen, ihre Geschichten aufzuschreiben, um alte Feindbilder zu beseitigen und sich kennen- und verstehen zu lernen. Teilweise haben wir mehr als 400 Website-Besucher pro Tag, und wir zählen erst ab einer Aufenthaltsdauer von 15 Minuten, freut sich Kennhöfer.

Kosten zahlen die Mitglieder der Erinnerungswerkstatt aus eigener Tasche

Bisher veröffentlichte die Erinnerungswerkstatt mit Dennoch haben wir gelacht … Jetzt bestellen … Bei Amazon, Kadera-Verlag oder direkt bei uns

ISBN-10: 3944459296
ISBN-13: 978-3944459295
Preis: 12,- EURO
- Kindheit und Jugend 1933 - 1955
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ISBN-10: 3944459113
ISBN-13: 978-3944459110
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– 60 Zeitzeugenberichte, Kriegsende, Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder
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ISBN Paperback:
978-3-948218-12-6
ISBN e-Book:
978-3-948218-13-3
Preis: 14,- EURO
– Wir wussten nicht, was Frieden ist
(2019, 14 Euro) drei Bücher im Norderstedter Kadera-Verlag. Kosten, die bei ihrer für die Gesellschaft wichtigen Erinnerungsarbeit entstehen, tragen die ehrenamtlichen Mitglieder der Initiative aus eigener Tasche.

Wer bei der Erinnerungswerkstatt mitmachen möchte oder einen Zeitzeugenbericht hat, wendet sich an Hartmut Kennhöfer unter Telefon 040/94798919, unter redaktion[at]www.ewnor[dot]de per E-Mail oder besucht die Website https://ewnor.de im Internet. [lin]

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung, Hamburger Abendblatt online vom 9. Januar 2021