20Jun2025

Vom Stoppeln zum Superfood

Margot Bintig

Früher haben wir einfach nur gegessen – alles was Mutter auftreiben und auf den Tisch bringen konnte. Direkt nach dem Krieg musste sie von der Stadt zu den Bauern auf dem Land hamstern gehen, damit wir überhaupt etwas zu essen hatten. Das heißt, sie ging betteln, denn wertvolle Dinge zum Tauschen hatte sie nicht. Im Herbst suchte sie auf den abgeernteten Feldern nach übriggebliebenen, bei der Ernte übersehenen Kartoffeln und Rüben. Man nannte das stoppeln gehen.

Ich habe als 1946 geborenes Nachkriegskind nicht viel davon mitbekommen, denn ich kann mich nicht daran erinnern, jemals gehungert zu haben. Auf alten Fotos kann man sehen, dass ich schon als Kleinkind wohlgenährt war. Wie schwer es meiner Mutter gefallen war, genügend Nahrung zu beschaffen, besonders in dem kalten Hungerwinter 1946/47, habe ich erst sehr viel später verstanden.

Nachdem zwei Jahre später die Lebensmittelknappheit vorüber war und das Wirtschaftswunder angefangen hatte, begann die sogenannte Fresswelle. Diese Phase war geprägt von Nachholbedarf, Genuss und Sattwerden – aber oft ohne Maß. Es gab vor allem kalorienreiche Mahlzeiten mit viel Fett und zu viel Fleisch oder Wurst. Viele Menschen nahmen damals zu und man sah häufig stattliche Damen und Herren. Dick und rund galt als gesund. An diesem Irrtum hielt auch meine Mutter zeitlebens fest.

Fleisch gab es anfangs bei uns aus finanziellen Gründen nur selten, und wenn, dann nur sonntags. Unter der Woche gab es nur einfache Gerichte, die ich auch heute noch gerne esse. Ich erinnere mich an Kartoffelbrei mit Blutwurst. Diese billige Wurst streckte meine Mutter mit Grütze und machte daraus einen Wurstbrei. Wie erstaunt war ich, als ich nach vielen Jahren in den Norden zog und dieses einfache Nachkriegsgericht bereits fertig als Grützwurst kaufen konnte. Ein Armeleuteessen war hier ein regionaler Klassiker, den ich gerne kaufe.

Doch langsam ging es bergauf und es gab auch unter der Woche Fleisch, oft Hackfleisch in Form von Frikadellen oder falschem Hasen. Später, ab Anfang der 1960er Jahre, gingen wir auch manchmal sonntagmittags in ein gutbürgerliches Lokal essen. Hier gab es die damals üblichen dreigeteilten Teller: Die vordere Hälfte war für das Fleisch und die Soße, oben links waren die Kartoffeln und rechts das Gemüse. Das war das typische deutsche Essen im Wirtschaftswunderland, die Hauptsache viel Fleisch und viel Kartoffeln, Gemüse konnte, aber musste nicht sein, und wenn, dann oft als totgekochter Matsch.

Natürlich gehörte auch viel Alkohol dazu. Wenn man es sich leisten konnte, baute man im Haus eine Kellerbar. Wer zu dieser Zeit aus medizinischen Gründen eine Diät halten musste, hatte es schwer.

Allmählich merkten die Deutschen, dass diese Lebensweise nicht allzu gesund war. Es begann mit der Trimm-dich-Bewegung. Aus den USA brachte die Fitness-Ikone Jane Fonda nicht nur Aerobic nach Deutschland, sondern auch die dafür jetzt notwendigen modischen Accessoires wie Leggins, Pulswärmer und Stirnbänder, das ein großes Geschäft wurde. Die Anzahl der Fitnessstudios ging durch die Decke. Turnvater Jahn hatte ausgedient und aus den Kellerbars wurden Fitnessräume.

Jetzt spielte die Ernährung eine große Rolle. Light-Produkte überschwemmten die Supermärkte – Joghurt mit 0,1 % Fett und unzähligen E-Nummern, und abends gab’s Salat – mit fettfreien Dressings. Ich machte diesen Unsinn anfangs auch mit, bis ich merkte, dass der Geschmacksträger Fett durch Zucker kompensiert wurde. Der ist billiger und im Gegensatz zu Fett wesentlich ungesünder. Die Reformhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden, da wurde das gute Essen zur Kost. Auf mich wirken diese Läden wie eine kulinarische Einöde und auch der Geruch in diesen Läden ist wenig appetitanregend.

Die Ernährung, zur Wissenschaft erhoben, wird inzwischen immer komplexer. Viele haben heute eine Laktose- und Fruktoseintoleranz oder Glutenunverträglichkeit – auch ohne ärztliche Diagnose. Manche denken sogar, sie könnten mit ihrer Ernährungsweise die Welt retten. Es gibt jetzt sehr viele Vegetarier und Veganer. Die Gründe für diese Ernährungsformen sind vielfältig, darunter sind ethische, gesundheitliche und ökologische Aspekte, und viele überschneiden sich, manche sind auch konträr zueinander. Während beide keine Tiere essen, gehen die Veganer einen Schritt weiter, sie essen und verbrauchen überhaupt nichts vom Tier. Das führt manchmal zu skurrilen Situationen: Leder wird verpönt, doch es wird dadurch noch mehr Plastik, nun als veganes Leder vermarktet, produziert. Trotz heimischer glutenfreier Getreidesorten wird Quinoa aus Südamerika als Superfood bevorzugt – CO2-Bilanz egal. Schmunzeln musste ich, als ich im Supermarkt eine junge Frau fragen hörte: Haben Sie auch vegane Kartoffeln? Manchmal scheint es, als ginge es nur darum, jeden Trend mitzumachen. Viele natürlich vegane Lebensmittel wie Öle oder Gewürze werden inzwischen mit vegan beworben, Käse als laktosefreiLaktose (oder Milchzucker) ist ein natürlicher Bestandteil der Milch. Allerdings wird im Käse während des Reifeprozesses Laktose in Milchsäure umgewandelt, so dass Menschen mit Laktoseintoleranz nicht auf den Genuss von (Hart)-Käse verzichten müssen., nur um den Umsatz zu steigern.

Heute sind auch an unserem Familientisch Personen mit verschiedenen Ernährungsweisen. Vegetarier machen keine Probleme. Da gibt es viele wohlschmeckende Rezepte aus der Nachkriegszeit, als Fleisch noch Luxus war, ganz ohne Tofu und Getreide aus Südamerika. Doch bei Veganern stoße ich mit meiner Küche an Grenzen: kochen ohne Milch, Butter, Käse und Eier? Hartweizennudeln mit Tomatensoße gehen, aber jeden Tag? Bei veganen Fleisch- und Wurstwaren stößt mich die ellenlange Zutatenliste von Emulgatoren, Konservierungsmittel, Verdickungsmittel wie zum Beispiel Xanthan (E415) und Stabilisatoren ab. Ob das wirklich gesund ist? Und warum soll das Essen wie Fleisch oder Wurst aussehen, wenn man doch tierische Nahrung ablehnt?

Was aber besonders schade ist: Die angenehmenTischgespräche gingen verloren. Es wird nur noch über Ernährung, Ethik und Moral diskutiert, nicht mehr über Geschmack, oder das Essen selbst. Fleischlose Esser müssen sich rechtfertigen, warum sie keinen Braten mehr wollen, Fleischesser werden für Tierquälerei und CO₂-Ausstoß in die Verantwortung genommen und kritisiert. Da vergeht einem der Appetit und die Freude am Kochen. Aus einer gemeinsamen, genussvollen Mahlzeit wird reine Nahrungsaufnahme. Mir fehlt jetzt die Toleranz und die Gelassenheit auf beiden Seiten.

Es gab mal eine Zeit, da haben wir einfach nur gegessen, was gerade da war, und nicht über Ernährung diskutiert, nicht analysiert und auch nicht moralisiert. Wir freuten uns einfach, dass wir etwas Gutes – mit oder ohne Fleisch - auf dem Tisch hatten und mit Genuss zusammen essen konnten.

Nach einer guten Mahlzeit kann man allen verzeihen, selbst seinen eigenen Verwandten. (Oscar Wilde) Margot Bintig, 20. Juni 2025