November — Schicksalsmonat der Deutschen?
Es ist November, das Wetter trüb und grau, die Tage werden spürbar kürzer und es wird schon am Nachmittag dunkel. Zeit, um sich mit heißem Tee und einem guten Buch in den Sessel zu kuscheln und das Jahr ausklingen zu lassen. So, habe ich mir sagen lassen, machen es die Menschen in Skandinavien.
Wir könnten es ebenso halten, doch irgendeine finstere Macht scheint uns Deutsche daran hindern zu wollen. Der Gang zum Briefkasten wird zur Qual, erwartet man doch, wieder eine dieser Karten mit schwarzem Rand darin vorzufinden. Warum sterben die Menschen (gefühlt) vorzugsweise im November? In diesem Jahr ist es mal wieder ganz besonders, eine Nachbarin wird beerdigt, ein Freund ist gegangen, für immer. Was hat Amerika im November gewählt — das Ende der Demokratie? Deutschland stürzt in eine Regierungskrise, die aufgeregten Pressemeldungen reißen nicht ab.
Historische Rückschau:
Im Oktober 1918 wird deutlich, dass der Erste Weltkrieg für Deutschland verloren ist. In der größten Seeschlacht der Geschichte bekämpften sich die Royal Navy und die Marine, das Steckenpferd des Deutschen Kaisers, vom Mai bis zum Juni vor der Küste Jütlands. Mit bis zu 250 Schiffen bekämpfen sich beide Seemächte und verlieren zahlreiche Schiffe und Menschenleben; der Ausgang der Schlacht blieb unentschieden, die Seeblockade der Engländer wird aufrecht gehalten. Das Kriegsziel der Deutschen Marine wurde nicht erreicht, auch der Dichter Gorch Fock kam bei den Gefechten ums Leben.
Schon Ende September war der obersten Heeresleitung klar, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Ludendorff informierte den Kaiser Wilhelm II. und den Reichskanzler Georg von Hertling über die aussichtslose Lage an der Front. Er fordert ultimativ, die Entente um einen Waffenstillstand zu bitten und empfiehlt gleichzeitig, die zentrale Forderung des amerikanischen Präsidenten Wilson nach einer zukünftig parlamentarischen Regierungsform anzunehmen. Damit schiebt er die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg und die bevorstehende Kapitulation den demokratischen Kräften in die Schuhe: Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben, soll er zu den Offizieren seines Stabes gesagt haben.
Die Mehrheitsparteien, vor allem die SPD, waren in dieser Lage bereit, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, vor der sich Kaiser und Heeresleitung nun drückten. Am 3. Oktober übernahm Max von Baden das Amt des Reichskanzlers und angesichts der drohenden Niederlage blieb die Verfassungsänderung fast unbeachtet. In seiner dritten Note erklärte Präsident Wilson, mit keinem anderen als den wahrhaften Vertretern des Deutschen Volkes verhandeln zu wollen. Mit militärischen Vertretern oder monarchischen Autokraten könne man nicht über Frieden verhandeln, man müsse Übergabe fordern. Daraufhin forderte Philipp Scheidemann in einem Schreiben an den Reichskanzler Max von Baden den Thronverzicht Wilhelms II., worauf der Kaiser ins Hauptquartier der Armee nach Spa und Ludendorff mit falschem Pass nach Schweden floh.
In Kiel plante währenddessen die deutsche Marineleitung unter Admiral Franz von Hipper, die gesamte noch einsatzfähige Hochseeflotte zu einem Nachtvorstoß in die südliche Nordsee zu entsenden, was zu einer Seeschlacht mit doppelt so starken Seestreitkräften der Royal Navy und amerikanischen Schiffen geführt hätte. Tausende Menschenleben sollten sinnlos geopfert werden, ohne dass es den Kriegsausgang geändert hätte. Der Aufstand der Matrosen begann in Wilhelmshaven, die Matrosen weigerten sich, die Anker zu lichten. Es kam teilweise zu offener Befehlsverweigerung und Meuterei. In allen größeren Städten marschierten Matrosen und übernahmen die zivile und militärische Macht. Am 7. November wurde König Ludwig III. von Bayern gestürzt, als erstes Land des Reiches wurde dort die Republik ausgerufen. Die Novemberrevolution führte am 9. November 1918 zur Ausrufung der Republik und zur Abdankung des Kaisers. Das war das Ende der Monarchie in Deutschland und der Beginn der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland. Der Erste Weltkrieg endete am 11. November 1918 mit einem Waffenstillstand.
Völlig unaufgeregt berichtet ein Zeitzeuge, der evangelische Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch, über die Ereignisse:
Am Sonntagmorgen nach banger Nacht ward das Bild aus den Morgenzeitungen klar: der Kaiser in Holland, die Revolution in den meisten Zentren siegreich, die Bundesfürsten im Abdanken begriffen. Kein Mann tot für Kaiser und Reich! Die Fortdauer der Verpflichtungen gesichert und kein Sturm auf die Banken! […] Trambahnen und Untergrundbahnen gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, dass für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.
Das Berliner Tageblatt vom 10. November schreibt:
Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazugehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute (…) Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist. Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der (…) so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien. (…) Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon.
Die äußerste Rechte nimmt die Ereignisse völlig anders wahr, in der konservativen Deutschen Tageszeitung ist am 10. November zu lesen:
Das Werk, das unsere Väter mit ihrem kostbaren Blute erkämpft – weggewischt durch Verrat aus den Reihen des eigenen Volkes! Deutschland, das noch gestern unbesiegt war, von Männern, die den deutschen Namen tragen, seinen Feinden preisgegeben, durch Felonie aus den eigenen Reihen niedergebrochen in Schuld und Schande!Die deutschen Sozialisten wussten, dass der Friede ohnehin im Werden sei und dass es nur noch gelte, Wochen, vielleicht nur Tage lang dem Feinde eine geschlossene, feste Front zu zeigen, um ihm erträgliche Bedingungen abzuringen. In dieser Lage haben sie die weiße Fahne gehisst.Das ist eine Schuld, die nie vergeben werden kann und nie vergeben werden wird. Das ist ein Verrat, nicht etwa nur an der Monarchie und am Heere, sondern am deutschen Volke selber, das seine Folgen durch Jahrhunderte des Niedergangs und der des Elends zu tragen haben wird.
Dieser Schriftbeitrag enthält alle Elemente der sogenannten Dolchstoßlegende
, wonach das Deutsche Heer im Felde unbesiegt durch die Hinterlist und Niedertracht der sozialdemokratischen Kräfte zu Fall gebracht wurde. Diese Legende wurde von den Nationalsozialisten, Hitler und Ludendorff, aufgegriffen und weiterverbreitet, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Am 8. und 9. November 1923 versucht die NSDAP mit ihren Führern Adolf Hitler und Ludendorff in München, sich an die Macht zu putschen. Mithilfe der konservativen bayrischen Landesregierung sollte die Reichsregierung in Berlin gestürzt werden, mit dem Ziel, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen und eine nationalsozialistische Diktatur zu errichten.
Wie es weiterging, weiß heute jedes Kind oder sollte es zumindest wissen. Hitler errichtete sein Tausendjähriges Reich
, das zwölf Jahre und drei Monate hielt, ermordete Millionen und lud den nachfolgenden Generationen erneut eine Kriegsschuld auf die Schultern, die Schuld am Zweiten Weltkrieg, der am 1. September 1939 begann und am 8. Mai 1945 mit gewaltigen Gebietsverlusten und der Teilung Deutschlands endete.
In der Konferenz von Jalta wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die Siegermächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich kontrollierten und verwalteten das Land. Im Sommer 1945 wurde eine Demarkationslinie zwischen Ost und West gezogen, die sogenannte Zonengrenze
. 1949 entstand daraus ein zweiter deutscher Staat, die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die das bessere Deutschland werden wollte. Am 13. August 1961 ließ der damalige Staatsratsvorsitzende, Walter Ulbricht, durch Berlin eine Mauer errichten und befestigte den gesamten Grenzverlauf zur Bundesrepublik mit Stacheldraht, Antipersonenminen, Selbstschussanlagen, Gräben, Todesstreifen, und es galt ein Schießbefehl auf flüchtende DDR-Bürger.
Die DDR feierte noch den 40. Jahrestag ihrer Gründung, aber schon seit September gingen DDR-Bürger bei den sogenannten Montagsdemonstrationen spazieren
. Diese friedliche Revolution führte dazu, dass Erich Honecker in einer Sitzung des SED-Politbüros zur Aufgabe all seiner Ämter gezwungen wurde. Am 4. November 1989 demonstrierten mehr als eine Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz, was auch vom Fernsehen der DDR übertragen wurde, und führte schließlich, am 9. November 1989, zur Öffnung der Mauer.
Was geschah noch am 9. November in Deutschland?
1938 begann an diesem Tag die sogenannte Reichskristallnacht
. Die durch nationalsozialistische Propaganda geschürten und von SA- und SS-Männern in Zivil durchführten Aktionen des gesunden Volkszorns
gegen jüdische Geschäfte, bei denen die Scheiben der Schaufenster zu Bruch gingen, was namensgebend wurde. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten die Synagogen in Deutschland. Das war der Auftakt für die Ermordung von Millionen jüdischer Mitbürger.
Am 9. November 1967, während der feierlichen Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Universität, entfalten Studenten ein Transparent mit der Aufschrift: Unter den Talaren — Muff von 1000 Jahren
, was den Beginn der 68er-Bewegung in Hamburg markiert. Die Bewegung richtete sich gegen die personellen Kräfte des tausendjährigen Reichs
, die wieder in Amt und zu Würden gekommen waren, darunter Hochschullehrer, Richter oder sogar, wie Hans Globke, Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze, nach dem Krieg Chef des Bundeskanzleramts unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer wurde.
Dieter Kunzelmann gründete 1969 die Stadtguerilla Tupamaros
in West-Berlin. Am 9. November legte Albert Fichter, Mitglied der Gruppe, eine Bombe mit Zeitzünder im jüdischen Gemeindehaus in Berlin. Die Bombe sollte während der Gedenkfeier an die Novemberpogrome 1938 explodieren. Auf dieser Feier waren auch der Berliner Bürgermeister Klaus Schütz und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski anwesend. Die Bombe explodierte nicht, was Sprengstoffexperten auf die überalterte Zündkapsel zurückführten. 2005 kam heraus, dass die Bombe von Peter Urbach, einem V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes, geliefert wurde.
Die Idee der Stadtguerilla
war Vorbild für die Rote-Armee-Fraktion
, RAF, die 1970 von Ulrike Meinhof und Andreas Baader gegründet wurde. In Haft starb am 9. November 1974 der RAF-Terrorist Holger Meins nach 58 Tagen Hungerstreik.
Der Mensch ist doch ein merkwürdiges Wesen, er will zufrieden und glücklich auf dieser Erde wandeln, doch am liebsten ohne die anderen. Er weiß, dass er nicht mehr nehmen darf, als diese Erde generieren kann, trotzdem nimmt er so viel, dass wir Deutschen schon am 2. Mai (2024) den sogenannten Erdüberlastungstag
, der Tag, an dem die natürlich gewachsenen Ressourcen der Erde aufgebraucht sind, feiern
dürfen. Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, vernünftiges Handeln liegt ihm nicht.
Ein wichtiges Ereignis hätte ich bei all der Aufzählerei fast vergessen, ausgerechnet die Institution, für die ich diesen Artikel geschrieben habe: die Erinnerungswerkstatt. Gegründet wurde sie am 2. November 2004, damit die vielen Zeitzeugen des vergangenen Jahrhunderts ihre Erlebnisse nicht mit ins Grab nehmen müssen. Am 9. November 2004 kamen die Mitwirkenden zur konstituierenden Sitzung zusammen. Diesen November feiern wir das zwanzigjährige Bestehen der Erinnerungswerkstatt. Und wenn Sie mögen, machen Sie sich einen heißen Tee, kuscheln sich mit den drei Büchern, die wir mit Zeitzeugenberichten gefüllt haben, in den Sessel und lesen Sie, was die Menschen im letzten Jahrhundert erlebt haben. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass diese Zeiten nicht wiederkehren. Verhindern wir gemeinsam das Erstarken rechtsradikaler Kräfte in Europa. Hartmut Kennhöfer, am 9. November 2024
Golo Mann: Deutsche Geschichte des XX. Jahrhunderts
| Christopher Clark: Die Schlafwandler
| Wikipedia: Reichspogromnacht
, Novemberrevolution
, Max von Baden
, Weimarer Republik
, Hans Josef Maria Globke
| Erinnerungswerkstatt: Situation ab 1945 in der Bundesrepublik Deutschland
| Golo Mann: Der letzte Großherzog
(1973).